Fitz der Weitseher 2 - Der Schattenbote
sehr mit sich selbst beschäftigt, um von mir Notiz zu nehmen. Und falls mich doch jemand bemerkte und erkannte, nun, so war ich fest entschlossen, mir am nächsten Tag bei neugierigen Fragen das Winterfest als Entschuldigung dienen zu lassen. Trotzdem war ich so diskret, mich zu vergewissern, dass niemand zu sehen war, bevor ich an ihre Tür klopfte. Keine Antwort, doch als ich die Hand hob, um nochmals zu klopfen, schwang die Tür lautlos zurück in die Dunkelheit.
Die Angst traf mich wie ein Faustschlag. Ohne einen Augenblick des Zweifels war ich überzeugt, dass ihr etwas zugestoßen war, jemand hatte sie überfallen, ihr wer weiß was angetan und dann im Finstern liegenlassen. Ich sprang ins Zimmer und rief ihren Namen. Hinter mir schloss sich plötzlich die Tür, worauf sie mir mit einem kurzen »Pst!«, befahl, ruhig zu sein.
Ich fuhr herum, aber meine Augen brauchten eine Weile, um sich an die Lichtverhältnisse zu gewöhnen. Der Schein des Feuers war die einzige Beleuchtung im Raum, und ich stand mit dem Rücken dazu. Als ich endlich etwas erkennen konnte, stockte mir der Atem.
»Hast du mich erwartet?«, brachte ich schließlich heraus.
Mit schnurrender Stimme erwiderte sie: »Nur seit Stunden.«
»Ich dachte, du wärst bei dem Fest in der großen Halle.« Langsam kam mir zu Bewusstsein, dass ich sie dort gar nicht gesehen hatte.
»Ich wusste, man würde mich dort nicht vermissen. Nur einer vielleicht. Und ich dachte, vielleicht würde dieser eine hierherkommen, um mich zu suchen.«
Ich stand nur da und schaute sie an. Sie trug einen Kranz aus Stechpalmen auf der lockigen Haarpracht. Sonst nichts. An die Tür gelehnt, bot sie sich meinen Blicken dar. Wie kann ich erklären, welche Veränderung sich vollzogen hatte? Zuvor waren wir gemeinsam ins Unbekannte vorgedrungen, forschend und lernbegierig. Dies war anders. Dies war die selbstbewusste Einladung einer Frau. Gibt es etwas Unwiderstehlicheres als das Wissen, von einer Frau begehrt zu werden? Es war überwältigend und Beglückend und sprach mich frei von allen Dummheiten, die ich je begangen hatte.
Winterfest.
Das Geheimnis des Herzens der Nacht.
Ja.
Vor Tagesanbruch schüttelte sie mich wach und schickte mich aus ihrem Zimmer. Der Abschiedskuss, den sie mir gab, bevor sie mich aus der Tür schob, war derart, dass ich im Flur stehenblieb und mir einzureden versuchte, dass diese Nacht noch längst nicht vorbei war. Doch ein paar Augenblicke später rief ich mir ins Gedächtnis, dass niemand von unserem Verhältnis wissen durfte, und wischte das törichte Lächeln von meinem Gesicht. Ich zog mein zerknittertes Hemd glatt und machte mich auf den Weg zur Treppe.
In meinem Zimmer angelangt, überfiel mich eine fast betäubende Müdigkeit. Wie lange war es her, seit ich eine ganze Nacht hatte durchschlafen können? Ich setzte mich auf mein Bett, zog das Hemd aus, ließ es zu Boden fallen, sank ins Bett zurück und schloss die Augen.
Ein leises Klopfen an der Tür ließ mich hoch fahren. Lächelnd stand ich auf. Als ich die Tür weit öffnete, hatte ich das Lächeln immer noch auf dem Gesicht.
»Gut, du bist wach! Und fast angezogen. So, wie du gestern Abend ausgesehen hast, fürchtete ich, dich am Kragen aus dem Bett zerren zu müssen.«
Es war Burrich, frisch gewaschen und gebürstet. Die Querfalten auf seiner Stirn waren die einzigen Spuren der Ausschweifungen der letzten Nacht. Aus der langen Zeit, die ich mit ihm das Quartier geteilt hatte, wusste ich, dass ihn auch ein noch so gewaltiger Kater nicht davon abhielt, pünktlich aufzustehen und seine Arbeit zu tun. Ich seufzte. Zwecklos, hier um Gnade zu bitten, denn von ihm war keine zu erwarten. Schicksalsergeben ging ich zu meiner Kleidertruhe, nahm ein frisches Hemd heraus und zog es an, während ich ihm zu Veritas’ Turm folgte.
Es existiert da eine physische und mentale Schwelle. Nur wenige Male in meinem Leben war ich gezwungen, sie zu überschreiten, aber jedes Mal passierte etwas Außerordentliches. Jener Morgen war eine dieser Gelegenheiten. Es war vielleicht eine Stunde vergangen, als ich mit bloßem Oberkörper und schwitzend in Veritas’ Turmgemach stand. Der Winterwind blies durch das offene Fenster, doch ich fühlte keine Kälte. Die umwickelte Axt, die Burrich mir gegeben hatte, war nur wenig leichter als die Welt selbst, und das Gewicht von Veritas’ Gegenwart in meinem Kopf schien mir das Gehirn aus den Augen zu pressen. Ich hatte keine Kraft mehr, um die Axt als Deckung
Weitere Kostenlose Bücher