Fitz der Weitseher 2 - Der Schattenbote
Hirngespinst nachzujagen?
Die Zeit verging an jenem sich niemals verändernden Ort sehr langsam. Essen und Wasser bekam ich nur, wenn ich darum bat, und auch dann nicht immer. Deshalb ließ sich der Tag nicht anhand der Mahlzeiten einteilen. Wenn ich nicht schlief, war ich meinen vielfältigen Gedanken und Ängsten ausgeliefert. Einmal versuchte ich mit der Gabe zu Veritas zu sinnen, aber die Anstrengung verursachte mir ein Flimmern vor den Augen und langwierige, pochende Kopfschmerzen. Für einen zweiten Versuch fehlte mir die Kraft. Hunger wurde zu einem Dauerzustand, der ebenso unerbittlich war wie die Kälte in der Zelle. Zweimal hörte ich die Wachen, wie sie Philia zurückwiesen und wie sie sich weigerten, mir das Essen und das Verbandszeug zu geben, das sie für mich gebracht hatte. Ich rief nicht nach ihr. Sie sollte aufgeben und mich meinem Schicksal überlassen. Trost fand ich nur, wenn ich schlief und mit Nachtauge im Traum auf Jagd ging. Ich versuchte, mir seine seine Sinne nutzbar zu machen, um zu erkunden, was in Bocksburg vor sich ging, doch er beurteilte alle Dinge nach den Maßstäben eines Wolfs, und wenn ich bei ihm war, ging es mir genauso. Zeit rechnete nicht nach Tagen und Nächten, sondern von Beute zu Beute. Das Fleisch, das ich mit ihm verschlang, konnte meinen menschlichen Körper nicht sättigen, und doch vermittelte allein das Gefühl des Fressens eine gewisse Befriedigung. Mit seinen Sinnen spürte ich, dass das Wetter umschlug, und erwachte eines Morgens in der Gewissheit, dass ein klarer Wintertag angebrochen war. Piratenwetter. Die Küstenherzöge konnten es nicht wagen, noch länger in Bocksburg zu verweilen, falls sie nicht schon längst abgereist waren.
Wie um meinen Gedankengang zu bestätigen, waren vom anderen Ende des Ganges Geräusche zu hören. Ich erkannte Edels gereizte Stimme, vernahm den unterwürfigen Gruß des Wachhabenden, und dann kamen schwere Schritte den Gang entlang. Zum ersten Mal seit meinem Erwachen im Kerker drehte sich der Schlüssel im Schloss meiner Zelle, und die Tür öffnete sich. Ich setzte mich langsam auf. Drei Herzöge und ein verräterischer Prinz schauten zu mir herein. Steifbeinig erhob ich mich. Hinter den Herren hatten Soldaten mit Piken Aufstellung genommen, wie um ein wildes Tier in Schach zu halten. Ein Mann mit blankem Schwert stand neben der geöffneten Tür zwischen Edel und mir. Offenbar wollte man nicht den Fehler begehen, meinen Hass zu unterschätzen.
»Da habt Ihr ihn«, erklärte Edel schroff. »Lebendig und wohlauf. Ich habe ihn nicht beseitigen lassen, obwohl es mein gutes Recht wäre. Er hat in meiner Halle einen meiner Männer, einen Diener, getötet. Dazu noch eine Frau oben in ihrem Gemach. Sein Leben liegt in meiner Hand, und er hat es schon allein wegen dieser Verbrechen verwirkt.«
»Erlaubt mir zu sprechen, Hoheit.« Brawndy ergriff das Wort. »Ihr beschuldigt FitzChivalric, König Listenreich mittels der alten Macht getötet zu haben. Ich habe nie davon gehört, dass dergleichen möglich sein könnte, aber wenn es so ist, hat der Rat ein Recht, über sein Leben zu bestimmen, denn er hat den König vor den anderen ermordet. Der Rat muss zusammentreten, um über seine Schuld und Unschuld zu entscheiden und das Strafmaß festzusetzen.«
Edel stieß einen verärgerten Seufzer aus. »Dann will ich den Rat einberufen, damit wir es hinter uns bringen. Es ist einfach lächerlich, wegen der Hinrichtung eines Mörders meine Krönung noch weiter hinauszuschieben.«
»Hoheit, eines Königs Tod ist niemals lächerlich«, wies Herzog Shemshy von Shoaks ihn in ernstem Ton zurecht. »Und wir wollen von einem Monarchen in allen Ehren Abschied nehmen, bevor wir dem Nächsten huldigen.«
»Mein Vater ist tot und begraben. Wie viel mehr Abschied könnt Ihr noch nehmen?« Edel wurde leichtsinnig. Denn mit weniger Trauer oder Respekt konnte ein Sohn nicht von seinem toten Vater sprechen.
»Wir wollen herausfinden, wie er genau starb und von wessen Hand«, antwortete Brawndy von Bearns. »Euer Mann Wallace behauptet, FitzChivalric habe den König ermordet. Ihr, Kronprinz Edel, unterstützt diese Aussage und beschuldigt ihn, sich zu diesem Zweck der alten Macht bedient zu haben. Viele von uns sind der Ansicht, dass FitzChivalric dem König in unverbrüchlicher Treue ergeben war und ihm eine solche Tat nicht zuzutrauen ist. Überdies sagt FitzChivalric, die Kundigen der Gabe hätten es getan.« Zum ersten Mal schaute Herzog Brawndy mich an.
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