Fitz der Weitseher 2 - Der Schattenbote
nur ahnen, dass ich wie der angefangen hatte, von der alten Macht Gebrauch zu machen, würde er mich genauso schnell und gründlich fallenlassen wie das vorherige Mal. Jeden Tag fragte ich mich aufs Neue, weshalb ich bereit war, wegen eines jungen Wolfs seine Freundschaft und seinen Respekt aufs Spiel zu setzen.
Die einzige Antwort war: Ich hatte keine Wahl. Ich hätte an dem Welpen ebenso wenig vorbeigehen können wie an einem hungernden und eingesperrten Kind. Für Burrich war die alte Macht, die es mir ermöglichte, in das Bewusstsein von Tieren einzudringen, eine Abartigkeit und eine widernatürliche Versuchung, die eines Menschen unwürdig war. Er hatte es nie ausgesprochen, aber stillschweigend eingestanden, in sich selbst diese schlummernde Fähigkeit zu verspüren, behauptete jedoch unerschütterlich, keinen Gebrauch davon zu machen. Falls doch, hatte ich ihn nie dabei ertappt. Er mich hingegen schon. Mit untrüglicher Sicherheit hatte er stets gewusst, wann ich mich zu einem Tier hin gezogen fühlte und mich mit einer Kopfnuss oder einem gehörigen Klaps zur Ordnung gerufen. Solange ich unter Burrichs Obhut in den Ställen gelebt hatte, war es ihm bis auf zwei Ausnahmen gelungen zu verhindern, dass ich mich mit einem Tier verbrüderte. Die tiefe Trauer beim Verlust eines engen Gefährten hatte mich überzeugt, dass Burrich im Recht war. Nur ein Narr würde sich auf etwas einlassen, das solchen Schmerz nach sich zog. Dann war ich also ein Narr und nicht ein Mann, der vor dem Leid eines misshandelten und halbverhungerten Tieres die Augen verschließen konnte.
Ich stibitzte Knochen und Fleischreste und altes Brot und gab Acht, dass niemand, auch nicht die Köchin oder der Narr, etwas davon bemerkte. Um nicht aufzufallen und nicht durch einen allzu deutlich ausgetretenen Pfad mein Geheimnis zu verraten, wählte ich für meine Besuche jeden Tag eine andere Uhrzeit und einen anderen Weg. Am schwierigsten war es gewesen, sauberes Stroh sowie eine alte Pferdedecke aus dem Stall zu schmuggeln, aber auch das hatte sich irgendwie bewerkstelligen lassen.
Trotz der unterschiedlichen Zeiten wartete Cub stets schon auf mich. Es war nicht nur der Instinkt eines hungrigen Tieres. Er spürte, wann ich mich auf den Weg zu ihm machte, und stand bereit, um mich zu empfangen. Er wusste auch, wann ich Ingwerkekse in der Tasche hatte, eine allzu schnell liebgewordene Nascherei. Nicht, dass er seinen Argwohn verloren hätte. Ich spürte nach wie vor seine Anspannung und wie er zurückzuckte, sobald ich eine unsichtbare Linie überschritt. Doch je der Tag ohne Schläge, mit jedem bisschen Futter, das ich ihm brachte, war ein weiteres Stück des Misstrauens zwischen uns überwunden. Es war eine Entwicklung, die ich keinesfalls begrüßte. Ich gab mir Mühe, kein Gefühl der Zuneigung zu meinem Pflegling aufkommen zu lassen und so wenig wie möglich durch die alte Macht mit ihm zu kommunizieren. Meine Sorge war, er könnte sich zu sehr an mich gewöhnen und die Wildheit verlieren, die er brauchte, um in Freiheit zu überleben. Immer wieder warnte ich ihn: »Du musst dich verborgen halten. Jeder Mensch ist dein Feind, erst recht jeder Hund. Du musst in diesem Gebäude bleiben und still sein, wenn jemand in die Nähe kommt.«
Anfangs fiel es ihm leicht zu gehorchen. Er war erbarmungswürdig abgemagert und stürzte sich heißhungrig auf das Futter, das ich ihm brachte. Meistens lag er schon schlafend auf seinem Strohbett, bevor ich die Kate verließ, oder beäugte mich eifersüchtig über einen besonders schmackhaften Knochen hinweg, an dem er nagte.
Doch gute Ernährung, Bewegungsfreiheit und wachsendes Zutrauen hatten zur Folge, dass die angeborene Verspieltheit des Welpen wieder hervorbrach. Sobald ich die Tür öffnete, sprang er mich übermütig an, oder er zeigte seine Freude über mitgebrachte Knochen, indem er sich wonnevoll knurrend darin verbiss und sie hin und her schüttelte wie eine Beute. Wenn ich ihn dann ausschimpfte, weil er zu laut gewesen war oder wegen der Spuren, die seinen nächtlichen Ausflug auf die verschneite Wiese hinter der Kate verrieten, duckte er sich vor meinem Unmut.
Doch ich bemerkte bei diesen Gelegenheiten sehr wohl die lauernde Wildheit in seinen Augen. Er hatte sich nicht unterworfen, sondern beugte sich vorläufig nur dem Rudelführer, bis zu dem Tag, an dem er dann so frei war, seine eigenen Entscheidungen zu treffen. Für mich war das eine schmerzliche Erkenntnis, auch wenn der Verstand mir
Weitere Kostenlose Bücher