Fix und forty: Roman (German Edition)
ihres Sohns reagiert hatten. Angesichts der Qualen, die depressive Menschen zum Selbstmord treiben, muss man sich schon fragen, wie jemand, der sie nicht selbst erlitten hat, die selbstgerechte Flagge von Verurteilung und Verdammung hochhalten kann.
Flip und Nick hatten sich unter den Geschwistern am nächsten gestanden. Flip hatte Fehler gemacht. Er war Vater geworden, obwohl er genau wusste, dass er mit seinen Depressionen kein guter oder auch nur mittelmäßiger Vater sein könnte. Er war so von seinem Leid und seiner Verzweiflung eingenommen, dass er einfach nicht dazu fähig war, das Mindestmaß an Fürsorge zu erbringen, nach dem die Liebe verlangt. Flip konnte für niemanden da sein. Er konnte nicht zuhören. Er konnte nicht einmal den Personen, die ihn liebten, seine eigenen Wünsche und Bedürfnisse mitteilen. Wie so viele Menschen, die an schweren Depressionen leiden, war er nicht in der Lage, einen Job zu behalten; er war nicht in der Lage, seine Medikamente regelmäßig einzunehmen. Er hangelte sich von einem schlechten Job zum nächsten und schlitterte dabei immer mehr dem Abgrund entgegen. Einmal wurde er gefeuert, weil er sich unprofessionell verhalten hatte, doch wir kamen nie dahinter, was er eigentlich getan hatte. Seine Frau verließ ihn; spätere Freundinnen verließen ihn. Am Ende, mit zweiundvierzig, schluckte er eine ganze Packung Antidepressiva und erstickte an seinem eigenen Erbrochenen, vor der Toilette eines billigen Hotels kniend. Das Leben eines Mannes in einem Absatz zusammengefasst.
Nick und ich waren schockiert, als seine Eltern Flip des Egoismus bezichtigten. Und wir waren ebenso sprachlos, dass man ihm im weiteren kirchlichen Diskurs fehlenden Glauben vorwarf; ich habe tatsächlich gehört, wie wohlmeinende Christen sagten, dass sein tragischer Tod hätte verhindert werden können, wenn Flip nur auf Gott vertraut hätte. Ein Geistlicher ging sogar so weit zu behaupten, Flip hätte, nachdem er die Hölle auf Erden gewählt hatte, nun auch die Hölle im Jenseits gewählt. Wir waren völlig entsetzt von der Vorstellung, dass die psychische Hölle eines Menschen ihm bis über den Tod hinaus folgen würde. Was auch immer Flip getan oder nicht getan hat, das Allermindeste, was er verdiente, war unser Mitgefühl und unsere Liebe.
Mir fiel es leicht, Mitgefühl und Verständnis für Flips Leid aufzubringen, da Flip mich nie persönlich verletzt hatte. Doch wie viel schwerer ist es, Mitgefühl und Verständnis zu haben, wenn das Elend eines anderen auch uns selbst mit in den Abgrund reißt!
In den Monaten bevor Nick mich verließ, als sein Verhalten immer verzweifelter wurde, brachte ich weder Mitgefühl noch Verständnis auf. Ich war vor Schock wie gelähmt. Und es ist ein langer, langsamer Weg, bis man sich wieder aus einer solchen Starre befreit hat. Die Versuchung ist groß, kategorische, pauschale Urteile über Nick zu fällen. Er hat mich benutzt, weil er mich nie geliebt hat. Er hat mich verlassen, weil er schwul ist. Er hat mich betrogen, weil er grausam ist. All diese Urteile würden mich aus der Verantwortung nehmen, obwohl ich auch zum Scheitern unserer Ehe beigetragen habe. Außerdem trifft keine der obigen Behauptungen zu. Nick liebte mich, soweit und solange es ihm möglich war. Seine Bisexualität hat er nie vor mir verborgen; ich ging diese Ehe in dem vollen Bewusstsein ein, dass Nick einen Freund gehabt hatte, bevor er mit Julia zusammenzog, der Frau, mit der er acht Jahre zusammen war, bevor er mich kennenlernte. Und jeder, der mal einen Psychologie-Einführungskurs besucht hat, weiß, dass grausames Verhalten meistens eher Symptom als Selbstzweck ist.
Wie Flip tat Nick das, was er seiner Meinung nach tun musste. Wie Flip traf Nick eine Entscheidung, die zu einem Ende führte, vielleicht sogar zu einem neuen Anfang. Beide Entscheidungen stellten Versuche dar, eine Heilung herbeizuführen, auch wenn sie aus Verzweiflung und Unglück geboren waren, die so groß waren, dass es keine passenden Worte gab, sie zu beschreiben. Ich will nicht wie Nicks Eltern enden, die ihrem Sohn vorwarfen, ihnen mit seinem Selbstmord wehgetan zu haben. Und ganz bestimmt will ich nicht eine dieser verbitterten geschiedenen Frauen sein, die ihren Exmännern nicht verzeihen können, dass sie sie betrogen haben. Ich kenne eine Frau, die nach zweiundzwanzig Jahren immer noch darunter leidet, betrogen worden zu sein! Selbstmitleid hat ihr Gesicht verhärtet, und ihre argwöhnisch funkelnden Augen
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