FJORD: Thriller (German Edition)
der Platz für Staffelei und Farben. Odin brauchte Bewegungsfreiheit, seinen künstlerischen Freiraum. In seinem Zimmer stolperte er bei jedem Schritt über einen anderen Einrichtungsgegenstand.
Nicht einmal Erik wusste von seinem Versteck, in dem sich Odin oft für Stunden zurückzog. Wenn der Druck zu groß wurde. Oder das Verlangen.
Dort hatte er seine Notration versteckt, sein letztes Tütchen Heroin. Erik hatte ihn aus seinem Osloer Kellerloch, das Odin damals seine Wohnung nannte, herausgezogen und nicht zugelassen, dass er irgendetwas von seinem Vorrat mitnahm. Er fügte sich, denn ein letzter Rest Verstand in seinem drogenumnebelten Gehirn sagte ihm damals, dass sein Freund das einzig Richtige tat.
Nur dieses kleine Päckchen konnte Odin einschmuggeln. Es war ihm zu gefährlich, die Drogen im Haus zu haben. Jan hätte sie versehentlich finden und in große Gefahr geraten können. Odin mochte den quirligen Kerl. Auch wenn es Ann Christin nicht gefiel. Sie mochte ihn nicht. Nun gut, das beruhte auf Gegenseitigkeit, aber er tolerierte sie. Was blieb ihm auch übrig?
Ob alle dem Feuer entkommen waren? Odin hielt einen Moment lang inne. Er beugte sich nach vorne und atmete mehrere Male angestrengt ein und aus. Warum war er nur abgehauen, ohne die anderen zu warnen? Was war nur mit ihm los? Waren ihm die anderen so egal? Hauptsache, er hatte seinen eigenen Hintern gerettet? Er wollte sich schon umdrehen und zurücklaufen, da ertönte die Feuersirene. Er sah, wie die Menschen aus ihren Häusern kamen und auf die Bäckerei zuliefen, mit Eimern, kleinen Feuerlöschern, Äxten und allem, das sie für geeignet hielten, den Brand zu bekämpfen. Sie würden das Feuer schon löschen und die Menschen befreien. Sie brauchten ihn nicht. Er rannte weiter.
Völlig außer Atem erreichte Odin sein Versteck im aufgelassenen Hafengebäude direkt neben den Schiffswracks. Mit einer Taschenlampe zwischen den Zähnen und hektischen Fingern durchwühlte er die verrosteten Regale und zusammengeklaubten Schränke mit ihren durchhängenden Türangeln, sofern noch Türen da waren. Dieser Ort war besser eingerichtet als so manches Zuhause, das er in den letzten Jahren sein Eigen genannt hatte.
Er hatte es gut versteckt. Erinnerte sich an die Stelle, konnte es aber nicht finden. Panik stieg in ihm auf. Es musste doch hier sein!
Rasend riss Odin alles aus den Schränken, von den Regalen und kippte Eimer, Kisten und Schachteln mit Farben, Pinseln und anderen Malutensilien aus, bis er schließlich innehielt und wusste, wo das Gesuchte zu finden war. Hatte er ihm doch aus Angst vor einer versehentlichen Entdeckung vor Wochen einen neuen Platz gegeben.
Das Fach wollte sich nicht öffnen lassen. Es klemmte. Machte sich hier jemand einen Spaß mit ihm? Er brauchte ein Werkzeug. Irgendeinen Hebel, um es zu öffnen. Er bekam einen alten Schraubendreher zu fassen und setzte ihn an. Mit einem lauten Knall sprang die Tür auf.
Erleichtert blickte Odin auf das Besteck und die kleine Tüte voller heiler Welt und Seligkeit. Das, was ihm Erik für seine Rückkehr nach Kongesanger versprochen hatte. Doch hier war der Vorhof der Hölle! Nichts war hier heil und niemand selig. Nichts war anders als in Oslo.
Wo auch immer er war, dauerte es nicht lange, bis eine zerstörerische Kraft alles vernichtete, was ihm wichtig war. Er musste dieser Welt entfliehen, schnell. Mit zitternden Fingern bereitete er einen Schuss vor, der in etwa seiner jemals konsumierten Höchstdosis entsprach. Wie Fahrrad fahren , dachte er sich, als er bemerkte, wie gekonnt er trotz langer Pause mit den Utensilien hantierte. Er zog die Spritze auf, band sich den Arm ab und setzte die Injektion an.
Die Wirkung war unmittelbar zu spüren. Der lange Entzug steigerte sie zusätzlich. Noch bevor er die Hälfte der Dosis injiziert hatte, wurde er von einer Welle der Euphorie erfasst, gefolgt von tiefer Ruhe und Sorglosigkeit. Ohne über mögliche Konsequenzen nachzudenken, drückte er auch den Rest in die Vene. Einmal noch atmete er tief aus.
Odin wachte auf. Er lag auf dem Bauch und spürte die Kälte des Betonbodens. Er öffnete die Augen einen Spalt weit. Der Speichel war ihm aus dem Mund geronnen und bildete eine Pfütze um sein Gesicht herum. Er hob den Kopf und drehte ihn auf die andere Seite, begleitet von heftigen Schmerzen, die er wohl dem langen Liegen am harten Boden zu verdanken hatte. Sein Ellenbogen lag auf einer getrockneten Blutlache. Daneben die Spritze.
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