Flagge im Sturm
eingestehen, dass ihr Gast in der kurzen Zeit mehr für Nantasket getan hatte als Eben in sechs Jahren.
Jonathan war unerschütterlich fröhlich und zufrieden. Nie zeigte er sich übel gelaunt. Er hatte sie auch nie wieder geküsst, berührt oder sich in irgendeiner anderen Weise unschicklich benommen. Dennoch spürte sie trotz allem in ihm eine tiefe Niedergeschlagenheit, eine Traurigkeit, die all die harte Arbeit nicht kurieren konnte.
Oft erkannte sie die Verzweiflung in seinen Augen und wusste dann, dass er wieder von Bildern verfolgt wurde. Er sah sich selbst als Pirat, Mörder und Räuber. Sie merkte es, wenn er die Schindeln spaltete und dabei mit Kraft und Konzentration den schweren Holzhammer auf den Keil niedersausen ließ. Das Hemd klebte ihm dann feucht am Körper, er sah nichts außer dem Keil und dem Holzscheit, das er spalten wollte, und er fühlte nicht den Schmerz, den die fortwährende Anstrengung in seinem Bein verursachen musste.
An diese Konzentration musste Demaris immer denken, wenn sie nachts schlaflos in dem großen, verhangenen Bett lag, das sie einst mit Eben geteilt hatte. Jonathan lebte ständig in Anspannung und erfuhr doch nichts über sich selbst. Man brauchte ihn nur anzuschauen, um zu erkennen, dass er ein überaus körperbewusster Mann war. Was Demaris beunruhigte, war die Frage, ob er auch ein gewalttätiger Mensch war.
Jonathans Nächte unten in der Küche verliefen auch nicht erholsamer. Er hatte ernsthaft und aufrichtig versucht, Demaris und sich selbst davon zu überzeugen, dass er nicht der Mann war, vor dem er sich selbst fürchtete, doch er brauchte ja nur einmal in diese blauen Augen zu schauen, und schon merkte er, wie armselig er versagte.
O ja, Demaris lächelte scheu, wenn er sie neckte, und sie bewirtete ihn mit den leckersten Speisen, als wäre er ein überaus angenehmer Gast, doch ihm entging nicht, wie sie ihn betrachtete, wenn sie sich unbeobachtet fühlte, und wie übertrieben sie sich immer über den Besuch ihrer Pächter freute, die sie dann regelmäßig zu längerem Bleiben nötigte, als brauchte sie einen Aufpasser.
Selbstverständlich wusste er, warum sie das tat. Er, Jonathan Sparhawk oder wie immer er auch heißen mochte, verängstigte sie. Er mochte so viele Zäune reparieren, wie er wollte, und er würde diese Frau trotzdem nicht davon überzeugen können, dass er ihr keineswegs in finsterer Nacht die Kehle durchschneiden würde.
Tief in seinem Inneren war er ja selbst nicht davon überzeugt. Es war für ihn doch einfach genug gewesen, diesen Seemann umzubringen. Und wie stand es mit den Freunden oder Kameraden, die er zweifellos besitzen musste und die genauso verkommen waren wie er? Was wäre, wenn diese nach Nantasket kämen, um ihn hier zu suchen? Was würde dann mit Demaris geschehen?
Tagsüber arbeitete er bis zur restlosen Erschöpfung, doch wenn er dann nachts in seinem Bett lag, dachte er an Demaris, und sein Körper kam nicht zur Ruhe.
Je länger sich Jonathan in ihrer Nähe aufhielt, desto mehr sehnte er sich danach, mit ihr zusammen die Freuden zu erleben, die dieser erste Kuss im Fieber versprochen hatte. Er begehrte sie so sehr, dass es ihn selbst erstaunte. Am allermeisten jedoch sehnte er sich nach dem Frieden, der sie stets zu umgeben schien, und er wollte sich in ihrer Umarmung sowohl finden als auch verlieren.
Er musste fortgehen. Er hatte keinen wirklichen Grund mehr, noch länger zu bleiben. In zwei Wochen würde er kräftig genug sein, um auf irgendeinem Schiff anzuheuern, und wäre es auch nur ein armseliger Küstensegler. Er musste Nantasket verlassen, bevor er noch das einzig Gute in seinem Leben zerstörte. Er konnte nur hoffen und beten, dass Demaris verstand.
Die Sonne war bereits hinter dem Hügel verschwunden und hatte die schwache Frühlingswärme mit sich genommen. Ruth war schon nach Haus gegangen, und Demaris beeilte sich damit, die trockenen Blätter und Zweige unter den Apfelbäumen zusammenzukehren, bevor die Sonne endgültig untergegangen war und der Erste Tag begann.
Während der Rechen durch das trockene Laub fuhr, dachte sie an Jonathan, der zusammen mit den Reeds jetzt die Weidezäune instand setzte, und sie hoffte, dass Daniel diesmal ausnahmsweise sein Geschwätz aus den Rumschenken für sich behielt. Sie bückte sich nach einem Zweig und sah deshalb den Mann nicht, bis er ihren Namen rief.
„Ihr seid Mistress Allyn, ja?“, fragte er.
Mit dem Rechen in den Händen richtete sich Demaris rasch auf.
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