Flagge im Sturm
kann sich auf den Augenschein allein nie verlassen, wenn man Zuchtvieh beurteilen will.“
„Ruth!“
Die Frau lachte leise, setzte sich auf die Bank und knüpfte ihr Mieder auf, um den zappelnden Säugling zu stillen. „Wie auch immer, es ist gut, dass er Euren Herd verlassen hat, Mistress. Daniel hat heute Morgen von seinem Vettel gehört, dass Euer Holländer heute Nacht wieder am Point erwartet wird.“
„Heute Nacht!“ Erschrocken sank Demaris neben Ruth auf die Bank. „Ich habe van Vere doch geschrieben, er soll in diesem Monat nicht mehr kommen. Er kann auch kaum Zeit genug gehabt haben, um nach New York und wieder zurück zu segeln. Und ausgerechnet heute Nacht! Ich habe zugesagt, heute Abend bei Evelyn und Roger zu speisen, und das muss ich selbstverständlich einhalten. Andererseits muss ich auch hier sein, wenn van Vere kommt. Ach Ruth, wieso denn nur heute Nacht?“
„Das ist doch alles nicht so schlimm, Mistress. Fahrt Ihr nur nach Newport zu Eurem Schwager. Falls van Vere kommt -und Ihr wisst ja auch, dass er meistens nicht kommt, wenn man ihn erwartet - dann schicke ich einen meiner Jungen aus, und der holt Euch und Caleb dann nach Haus. “ Demaris rieb sich den Handrücken und dachte nach. „Ich könnte Roger dann erzählen, das Lammen hätte begonnen. Mein Schwager ist inzwischen zu einem richtigen Stadtmenschen geworden und würde sich darüber nicht weiter wundern.“
Ruth nickte. „Ihr könntet dann gleich zum Strand oder zur Höhle gehen, ohne erst hierher zurückzukommen. So kann es auch dieser Jonathan nicht sehen, was Ihr vorhabt.“
Sie machte ein misstrauisches Gesicht. „Ich meine, fleißig ist er ja. Schuftet fröhlich wie jeder andere von Euren Leuten. Nur irgendetwas hat er an sich, das mir nicht ganz richtig vorkommt. “
„Ich glaube, er ist nicht im Reinen mit sich selbst“, erklärte Demaris. „Doch ich glaube nicht, dass er so böse ist, wie du vermutest. “
„Ihr seid einfach zu gütig, Mistress. Ihr sucht immer das Güte, auch da, wo es gar keines gibt. Je eher dieser Kerl verschwindet, desto besser für uns alle. “ Sie wiegte den kleinen Eli hin und her, und die großen Messingringe in ihren Ohren blitzten im einfallenden Sonnenlicht.
Plötzlich lächelte sie Demaris an. „Ich hätte ja das alles über Euch und ihn nicht gesagt, wenn ich wirklich überzeugt wäre, dass Ihr beieinander gelegen habt. Und das wäre die reine Torheit gewesen, sage ich Euch.“
Demaris zwang sich dazu, das Lächeln zu erwidern. „Die reine Torheit“, bestätigte sie leise und streichelte dabei Elis samtweiche Wange. „Ja, überhaupt alles war die reine Torheit.“
Demaris schaute auf den vor ihr stehenden Porzellanteller und die elegant angeordneten Kalbsbratenscheiben mit den grünen Erbsen in Sahne.
Seit sie von ihrem Schwager in den kerzenbeleuchteten Speiseraum geleitet worden war, hatte sie diesen Moment gefürchtet und immer darum gebetet, dass einer der Turner-Söhne erscheinen und sie retten würde. Inzwischen war die Schildkrötensuppe auf- und wieder abgetragen worden, der zweite Gang stand auf dem Tisch, und jetzt konnte sie dem Problem nicht mehr ausweichen. Sie beschloss, sich einfach nach Evelyn zu richten und zu beobachten, wie diese die seltsamen kleinen Gabeln mit den drei Zinken benutzte.
„Stimmt etwas mit deinem Kalbsbraten nicht, Demaris?“, erkundigte sich Roger, dem aufgefallen war, wie still seine Schwägerin dasaß. „Ich kann dir auch etwas anderes servieren lassen, wenn du möchtest.“
Eilig schüttelte Demaris den Kopf. „Nein, nein. Vielen Dank, Roger. Dies hier ist großartig.“ Sie warf einen Blick zu Evelyn hinüber, die höchst interessiert ihrem Tischherrn lauschte. Ohne die Augen auch nur eine Sekunde von denen des Gentlemans zu wenden, spießte sie einen Bissen Fleisch mit den Zinken auf, winkelte elegant das Handgelenk an und hob sich die Gabel an den Mund.
Demaris sah es mit Entsetzen. Ihre Mutter hatte sie gelehrt, dass Gabeln nur dazu da waren, das Fleisch während des Schneidens festzuhalten. Kein wohlerzogener Mensch würde sie jemals zum Essen benutzen.
„So macht man es bei Hofe, meine Liebe“, flüsterte Roger ihr zu, der ihr Dilemma erkannt hatte. „Die Sitte stammt natürlich aus Italien, wo alle solche Moden beginnen. Wenn du erst einmal ein wenig geübt hast, erweisen sich diese Gabeln als recht praktisch. Wesentlich eleganter, als wenn man das Fleisch wie ein Wilder mit dem Messer isst. Komm, ich zeige es
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