Flamingos im Schnee
South of the Border, hatte Cam nur einen Gedanken: Por qué?
Das South of the Border war so gut wie leer. Hatten die Leute die Schilder nicht gesehen? Es war staubig, stickig und stupide. Nichts als ein paar Lagerhäuser voller Schund, die man mitten in die Ödnis gestellt hatte. Auf dem ganzen Gelände standen Gipsfiguren von afrikanischen Tieren herum, auch eine Giraffe und ein enormer Gorilla in einem T-Shirt. Was die mit Mexiko zu tun haben sollten, entzog sich Cams Vorstellungskraft. Es kostete einen Dollar, um mit dem Aufzug hinauf auf den Sombreroturm zu fahren, wo man meilenweit ins Nichts schauen konnte.
»Puh, dieser Laden ist ganz schön heruntergekommen«, sagte Alicia. Sie hörte endlich mal auf, die Nummer des Promise Breakers Hotels zu wählen, nahm das Handy vom Ohr und sah sich um.
»Ja klar, war bestimmt mal richtig schick hier.«
»So schlimm jedenfalls nicht.«
Cam war froh, dass sie es erst bei Dunkelheit zu Gesicht bekam, da all die Neonlichter dem Ort immerhin eine gewisse Faszination verliehen. South of the Border bei Nacht war schon zum Staunen. Zwielichtig, billig, knallbunt, kitschig und schmutzig, sodass es fast dem echten Tijuana ähnelte, abgesehen von dem Mangel an sichtbaren Prostituierten. Sie setzte Tweety wieder in seinen Käfig und deckte ihn zu, damit er nicht Zeuge dieser vulgären Umgebung werden musste.
»Okay, alle mal um das Klischee versammeln«, rief Cam. Ihr Vater hatte das immer gesagt, wenn die Touristen sich mit ihm fotografieren lassen wollten. Cam holte ihre Kamera heraus und machte einen Schnappschuss von Perry und ihrer Mutter, wie sie einem weiteren überdimensionalen Gips-Pedro in die Wangen kniffen.
Dann steuerte sie den Geschenkeshop West an, einen häuserblockgroßen Laden, in dem es nach Cams Einschätzung viel bessere Sachen gab als im Geschenkeshop Ost auf der entgegengesetzten Seite des Geländes.
»Die Einhornabteilung ist im Geschenkeshop Ost«, sagte Perry.
»Gut, dann treffen wir uns hinterher in der Spielhalle.«
Im GSW gab es hektarweise Schnapsgläser, Schneekugeln, Windspiele, Zahnstocherhalter, Schlüsselanhänger, Autoaufkleber, Wackeldackel und anderen Krimskrams. Es war das reinste Raststätten-Paradies. Cam machte sich an die Arbeit. Sie hätte ihre Trophäen natürlich von ihrem Scheck von Disney bezahlen können, doch leider war sie ein bisschen süchtig nach dem Nervenkitzel des Stehlens geworden.
»Das ist das letzte Mal«, sagte sie sich, obwohl sie wusste, dass Süchtige das immer schworen, aber es sollte wirklich das letzte Mal sein.
Das passende Geschenk für Perry fand sie sofort. Sie stand vor einem Drehgestell voller Kaffeebecher aus Kunststoff mit Vornamen darauf, und es gab tatsächlich einen mit dem Namen Perry. Er war für einen Jungen gedacht – blau, mit einem großen Fußball, der sich auf einer Seite herausbeulte –, aber trotzdem genau das Richtige. Perry fand es nämlich schrecklich, dass sie einen »geschlechtsneutralen« Namen hatte, weshalb sie ihn immer »Peri« schrieb und statt des i-Punkts ein Gänseblümchen malte. Sie hatte sich selbst zu einer Vorsilbe gemacht.
Auf den Becher würde sie zuerst kurz sauer reagieren, aber dann würde sie lachen. Cam schob ihn in die Bauchtasche ihres Hoodies und klaute dann für ihre Mom einen glotzäugigen Frosch aus Muscheln. Ihre Mutter hasste Nippes aus Muscheln und hatte geschworen, niemals irgendwelchen Muschelschnickschnack in ihrem Haus zu dulden, schon gar nicht im Badezimmer. Cam würde darauf bestehen, dass dieser Frosch in ihrem Bad in Maine wohnte.
Bloß dass sie noch nicht einmal ansatzweise ein Zimmer dort reserviert hatten. Inzwischen war sie fast sicher, dass dieses Hotel gar nicht existierte. Sie steckte einen flamingoförmigen Rückenkratzer vorne in ihre Hose. Es war die kurze Cargohose mit den vielen Taschen, die an den Knien zusammengebunden wurde, sodass sie einen üppigen Fang dort unterbringen konnte. Und dann bekam sie eine SMS von Lily:
DMFDBDB (Deine Mission falls du bereit dazu bist): Feuerwerksraketen v. Rckt. City und 1 Windlicht.
Sie würden in etwa einer Stunde bei ihr sein, und Cam konnte es kaum noch erwarten. Wenn Lily Feuerwerksraketen wollte, dann würde sie ihr welche besorgen.
South Carolina war einer der wenigen Staaten, in denen es noch kein Gesetz dagegen gab, dass Kinder sich die Finger mit Böllern abrissen. Cam bewegte sich langsam auf den Ausgang zu, um dann die Straße zum Feuerwerksladen Rocket City zu überqueren.
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