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Flamingos im Schnee

Flamingos im Schnee

Titel: Flamingos im Schnee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wendy Wunder
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anziehen konnte, kam Lily aus der Tür gestürmt, packte sie am Handgelenk und zog sie den Hang hinunter zum Wasser.
    »Autsch, autsch, autsch«, schrie Cam, als sie vergeblich versuchte, den Kiefernzapfen auszuweichen, auf die sie ständig trat.
    »Auf die musst du aufpassen«, sagte Lily verspätet, die in einem weißen, fließenden Kleid zierlich um die Zapfen herumtanzte wie eine Waldelfe.
    Auf Zehenspitzen gingen sie bis ans Ende des Bootsstegs, wo Lily schon zwei Colas, eine Schachtel Zigaretten und eine große Abalonemuschelschale, die sie als Aschenbecher benutzte, bereitgestellt hatte. Der Fiberglasrumpf des dort liegenden Motorbootes rieb sich manchmal quietschend an den Autoreifen, die an die Seite des Anlegers genagelt waren. Sonst waren nur der Chorgesang der Grillen und das schmatzende Geräusch der Wellen zu hören, die an dem Boot leckten. Der Mond zeichnete einen schimmernden gelben Pfad aufs Wasser, wie eine Einladung, darauf zu wandeln.
    »Also, ich hab’s getan«, sagte Lily beiläufig, während sie eine Rakete anzündete, die kreischend vom Steg aufstieg. Sie explodierte mit einem Knall, der über dem ganzen See widerhallte. Wie sich herausstellte, war Lily eine richtige Pyrotechnikerin – oder Pyromanin, Cam war sich da nicht so sicher. »Was hast du mir noch mitgebracht?«, fragte sie und wühlte gierig in Cams Tasche nach weiteren Feuerwerkskörpern.
    »Warte mal, stopp – du hast was getan?«, wollte Cam wissen. Allem Anschein nach hatte Lily viel getan, vor allem viel verändert, seit sie beide während ihres letzten klinischen Tests in Memphis in einem Zimmer gehaust hatten. Ihre Haare, die sie vorher immer in einem punkigen Fransenschnitt mit grünen Strähnen getragen hatte, waren jetzt wieder natürlich aschblond, brav schulterlang und mit einem schmucklosen Haarband zurückgehalten. Sie verwendete auch nicht mehr ihren krassen Eyeliner, sondern hatte hellblauen – hellblau! – Lidschatten aufgetragen, der zu ihren klaren Augen passte. »Was hast du getan, Alice, bist du ins Kaninchenloch gesprungen?«
    »Könnte man so sagen.« Lily grinste. Sie setzte sich neben Cam ans Ende des Stegs und ließ die Füße ins Wasser baumeln.
    »Du hast es getan?«, fragte Cam. Sie probierte, wie weit sie spritzen konnte, und beobachtete die konzentrischen Kreise, mit denen das Wasser wieder zur Ruhe kam.
    »Positiv.« Lily riss den Fuß hoch, und ein paar ihrer Tropfen landeten etwa einen halben Meter weiter als Cams letzter Spritzer.
    »Mit wem?«
    »Ryan«, sagte Lily, die nicht aufhören konnte zu grinsen.
    »Wer ist Ryan?« Es schockierte Cam, dass sie erst jetzt davon erfuhr. Sie telefonierten jeden Tag miteinander – wie hatte Lily ihr verheimlichen können, dass sie einen »Liebhaber« hatte?
    »Ich habe ihn in der Kirche kennen gelernt.«
    »Du gehst neuerdings zur Kirche?« Die Überraschungen nahmen kein Ende.
    »Und in die christliche Jugendgruppe«, erwiderte Lily und zog den Fuß aus dem Wasser. Sie fröstelte ein bisschen, hüllte sich in ihr orangefarbenes Strandtuch und kuschelte sich an Cam.
    »Sind diese Jugendgruppenleute nicht gegen Sex vor der Ehe?«, fragte Cam und wunderte sich, dass Lily fror. Es waren immer noch feuchtheiße dreißig Grad, trotz des Lüftchens, das über den See heranwehte.
    »In der Öffentlichkeit.«
    »Und privat?«
    »Wie die Karnickel.«
    »Aha! Danke, dass du endlich das Rätsel der merkwürdigen Anziehungskraft von kirchlichen Jugendgruppen für mich gelöst hast. Gehst du jetzt auch auf christliche Rockkonzerte?«
    »Nein, irgendwo musste ich die Grenze ziehen«, erklärte Lily. Sie höre immer noch Rancid, Propaghandi, Anti-Flag und die Dead Kennedys, gewöhnte sich aber Ryan zuliebe allmählich Crucifux und Christ on a Crutch ab. Den Namen des Herrn nicht missbrauchen und so.
    »Wie sieht er aus? Ich empfange so einen schlaksigen, sommersprossigen, pickligen Vibe.«
    »Cam.«
    »Auf ’ne hübsche Art. Ich meine auf ’ne hübsche Art picklig.«
    »Wie kann man auf eine hübsche Art pickelig sein?«
    »Keine Ahnung.« Cam hatte so ein merkwürdiges Gefühl. War es Eifersucht? War sie auf einen schlaksigen, pickeligen Ryan eifersüchtig? Oder neidisch auf Lilys Erfahrung? Oder wütend, weil Lily ihr bisher nichts davon erzählt hatte? Auf einmal war es ihr unangenehm, dass sie ihr so unbedacht jeden geheimen Gedanken und Wunsch anvertraut hatte, während die Freundin hier ein Doppelleben lebte. Sie beobachtete eine über dem See schwebende

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