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Flamingos im Schnee

Flamingos im Schnee

Titel: Flamingos im Schnee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wendy Wunder
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ist?«, flüsterte Cam. »Polizei?«
    »Nein, Rita! Ich gehe nach Hause. Viel Glück.«
    »Nana?«, zischte Cam. Doch ihre Großmutter war schon weg. Cam richtete ihre Aufmerksamkeit auf den Baum, der von einem niedrigen weißen Zaun umgeben war und mit blauen und weißen Bodenscheinwerfern angestrahlt wurde. Sie schlich auf ihn zu und streckte gerade die Hand nach einem tief hängenden Blatt aus, als sie das unverwechselbare Türklingelzwitschern von Tweety hörte.
    »Tweety?« Gerade noch konnte sie seinen kleinen gelben Bauch hinter einem flatternden Blatt ganz oben in der Krone erkennen. Sie hätte ihn Perry niemals anvertrauen dürfen.
    »Tweety, komm hier runter!«, flüsterte sie eindringlich, aber er dachte gar nicht daran. Der Adrenalinausstoß beflügelte sie offenbar, denn sie vergaß ihre übliche Höhenangst und fühlte sich so leicht und flink, dass sie bis zu einem der obersten Äste hinaufkletterte, sich an einem noch höheren Ast festhielt und dann seitwärts voranschob. Sie streckte die Hand nach Tweety aus und lockte ihn.
    »Komm her, du dummer Junge. Wir sind hier in Jersey, Tweety, in diesen finsteren Gassen findest du dich nicht zurecht. Komm zu mir, Tweets.«
    Sie pfiff die kleine Melodie, die er gern mochte. »Hierher, Tweety.« Sie hatte ihn fast. Ihre Fingerspitzen berührten schon die scharfen Krallen seines linken Fußes, als sie merkte, wie ihr eigener Fuß wegrutschte. Die abblätternde Rinde unter ihren Turnschuhen löste sich und fiel bröselnd hinab, sodass sie den Halt verlor und mit den Beinen in der Luft strampelte. Sie hing mit den Achselhöhlen in der Krone eines bekloppten Baums in Hoboken.
    Und dann knallte eine Tür zu. Ein glatzköpfiger Priester kam im Bademantel aus dem Pfarrhaus gestürmt und setzte sich ungeschickt eine große, schwarz gerahmte Brille auf die Nase.
    »Komm sofort da runter! Mach, dass du von diesem Baum herunterkommst!«
    Tweety zwitscherte ein letztes Bimbam-Zwitschern, und dann lief alles in Zeitlupe ab. Er sah ihr gerade in die Augen, als wollte er um Verzeihung bitten. Flatterte mit den Flügeln. Flog noch nicht davon, flatterte nur. Als wollte er sagen: Komm, lass uns hier verschwinden, Cam. Warum kannst du nicht einfach mit mir kommen? Schließlich hauchte er einen kleinen Seufzer aus und flog im Mondlicht auf die glitzernde, stegosaurierartige Skyline von Manhattan zu.
    »Sie Arschloch!«, schrie Cam den Pfarrer unten an, der es nicht gewohnt war, Arschloch genannt zu werden, nicht mal in New Jersey. »Sie haben meinen Vogel verschreckt. Sie Arschloch«, keuchte sie kaum hörbar, denn zum ersten Mal seit dem Tod ihres Vaters konnte sie das Weinen nicht unterdrücken. Sie bemühte sich, spannte ihren Körper an und versuchte, den schmerzenden Kloß in ihrer Kehle hinunterzuschlucken, doch als die Tränen erst einmal flossen, waren sie nicht mehr zu stoppen.
    Der Pfarrer, Pater John, stellte sich dann als ziemlich nett heraus. Er redete ihr gut zu, bis sie von dem Baum herunter war, und begleitete sie nach Hause. Zum Abschied versprach er, für Tweetys wohlbehaltene Rückkehr zu beten, was er wirklich nicht gemusst hätte, nachdem sie ihn Arschloch genannt hatte. Zweimal.
    »Cam«, begann Perry, als sie ins Wohnzimmer kam.
    Aber Cam hob abwehrend die Hand und sah schnell von Tweetys leerem Käfig in der Ecke weg. »Sag nichts, Perry. Lass mich einfach in Ruhe.«
    Sie wandte sich an ihre Oma. »Ich weiß nicht, welcher von deinen aussichtslosen Plänen der aussichtsloseste ist, Nana: die katholische Kirche zu reformieren, Krebs im Endstadium zu heilen oder einen entflogenen Kanarienvogel in Hoboken zu finden. Aber wenn du wenigstens zu irgendeinem deiner Heiligen für Tweety beten könntest, wäre ich dir dankbar.« Cam ließ sich in den alten Vinylsessel ihres Großvaters fallen, über den an den entscheidenden Stellen Geschirrtücher und Spitzendeckchen gehängt waren, damit man nicht an ihm festklebte.
    »Hast du wenigstens das Blatt bekommen?«, konnte sich ihre Großmutter nicht verkneifen zu fragen.
    »Hier«, sagte Cam und öffnete ihre Faust, in der sie ein zerdrücktes grünes Blatt hielt. Als es sich langsam entfaltete, zeigten seine Adern fast dasselbe Muster wie ihre Handlinien.
    Sich von Nana zu verabschieden war immer schwierig, denn damit sie den Abschied überhaupt durchstehen konnte, ohne danach noch volle zehn Tage lang zu weinen, musste sie so tun, als wäre sie sauer auf einen.
    Cam und Perry saßen am Frühstückstisch. Ihre Mom

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