Flamingos im Schnee
die noch richtig mit den Händen arbeiteten. Solchen Menschen würde sie in Harvard nicht begegnen – auch wenn sie sowieso nicht dorthin gehen würde. Menschen, die noch eine starke Bindung zur Scholle hatten, zum Meer, zu ihrer Gemeinschaft. Menschen, die sich noch für etwas anderes verantwortlich fühlten als für ihren Notendurchschnitt. Spontan verwarf sie ihre zimperliche Weigerung, Hummer zu essen, und schwor sich, einen zu verspeisen, sobald sie wieder zurück waren.
»Wir Glückspilze«, sagte Asher. »Dann machen wir wohl einfach eine Vergnügungsfahrt, schätze ich.«
»Voll in Schale geworfen und jetzt keine Party.« Cam hielt ihre orange behandschuhten Hände hoch.
»Wir können wenigstens einen für dich fangen«, schlug Asher vor.
»Können wir ihn auch essen?«
»Wie du möchtest.« Er zwinkerte ihr zu.
Asher ging in einer kleinen, lauschigen Bucht vor Anker, die durch festungsartig hochaufragende, graue Felsen vor der Außenwelt geschützt war. Das Boot schaukelte neben einer Markierungsboje heftig auf und ab. Asher holte die Boje aus dem Wasser, fädelte die daran befestigte Leine durch ein kompliziertes Flaschenzugsystem und begann zu ziehen, zog Meter um Meter Seil herauf.
»Hier, du kannst den Rest heraufholen.«
Er gab Cam die Leine, und sie stemmte sich mit ihrem ganzen Körpergewicht gegen den Widerstand, wie ein kleines Kind, das die Kirchenglocken läutet. Die Falle war schwer mit all dem Ozean oben drauf. Als sie endlich an die Oberfläche kam, packte Asher sie, öffnete sie und fing an, den Seetang herauszupicken. Sonnenreflexe glitzerten auf seiner Sonnenbrille und in seinen naturblonden Strähnen. Sein Anblick raubte Cam für einen Moment buchstäblich den Atem, aber das würde sie niemals laut zugeben, nicht in einer Million Jahren. Beziehungsweise den wenigen Wochen, die ihr noch blieben.
Zwei Hummer saßen einander gegenüber in der Falle und streckten ihre großen, unbeholfen wirkenden Scheren von sich, als würden sie vornehm zierliche Teetassen halten. »So, ich lasse dir den Vortritt. Pack sie einfach am Hinterteil«, sagte Asher.
Der erste, den sie herausnahm, hatte Tausende von kleinen schwarzen Kügelchen am Bauch hängen.
»Iih!« Cam ließ ihn beinahe fallen.
»Warte, das ist Laich, Eier«, sagte Asher. »Wir müssen sie wieder reinwerfen.«
Der Panzer des nächsten Hummers hatte die gleiche Breite und den gleichen Umfang wie der Homers. Cam zog ihn am Schwanz heraus und drehte ihn um, um nach Eiern zu sehen. Er entrollte seinen Schwanz und peitschte ein paar Mal damit, wie ein glücklicher Labrador, der auf den Boden klopft.
»Ist ja gut, mein Junge«, sagte sie.
Sie drehte ihn auf die Seite und bemerkte, dass ein bisschen Seetang um sein Scherengelenk gewickelt war. Mit ihrem behandschuhten Zeigefinger wischte sie über das algenbedeckte Ding am Arm des Hummers. F … R … E … I …
»Äh, Asher«, rief sie. Er war damit beschäftigt, die Falle mit einem neuen Köder in Form eines toten Fisches zu bestücken. »Asher, du wirst es nicht glauben!«
»Das ist ein Hummer, Cam. Davon sehe ich Hunderte jeden Tag.«
»Asher …« Homer schnappte nach ihr, sodass sie ihn fallen ließ. Er landete mit einem dumpfen Plumps auf dem Schiffsboden.
»Bist du gezwickt worden?«, fragte Asher. Sie sagte nichts, als er sich bückte, um ihn aufzuheben.
»Homer?«, rief er verblüfft.
»Kann das sein?«
»Und er hat bereits eine Hummerdame gefunden. Gut gemacht, Homie.«
»Er scheint sich einfach nicht von Promise trennen zu können.«
»Kann ich verstehen. Hier, gib ihm einen Kuss, dann werfen wir ihn wieder rein.« Sie hoben ihn noch einmal gen Himmel und schrien: »Freiheit!«, als Homer durch die Luft wirbelte und dann mit einem Bauchklatscher im Meer landete.
Cam atmete tief durch. Die Luft war kühl und frisch wie ein sauberes Bettlaken, genau wie am Tag ihrer Ankunft in Promise. Asher legte den Arm um ihre Hüften und hakte seinen Daumen in eine ihrer Gürtelschlaufen, während sie zusammen auf die blaugraue Bucht blickten, die Homers neues Zuhause war. Sie spürte Ashers Gewicht neben sich und bemerkte ein schmelzendes Gefühl tief in ihrem Bauch. Eine ungewohnte, innere Wärme, die, wie sie nach und nach erkannte, Zufriedenheit bedeutete.
Cam schüttelte ihre rechte Hand, schockiert darüber, dass sie erneut Homer darin gehalten hatte. Sie dachte an Elaines Bemerkung über das Achtgeben auf Zufälle. War es ein Zufall, dass sie wieder auf Homer gestoßen
Weitere Kostenlose Bücher