Flamme der Freiheit
Die Soldaten, anfangs für ihre Zurückhaltung und Höflichkeit gerühmt, wurden mehr anstatt weniger und immer unverschämter. So manche Anzüglichkeit musste Eleonora sich sogar in Hohenschönhausen, weit entfernt von Berlin Mitte, noch anhören. Wenn sie diese überhörte, folgten Beschimpfungen der übelsten Art. Die meisten Frauen reagierten gar nicht darauf, weil sie die Sprache nicht verstanden. Im Gegensatz zu Eleonora, die sich am liebsten die Ohren zugehalten hätte, wenn sich solch ein Schwall von Unflätigkeiten über sie ergoss. Mehr als einmal kam sie fast weinend von ihren Besorgungen zurück, erreichte völlig aufgelöst das rettende Gartentor des Hedebrinkschen Hauses.
»Ich könnte ihn verwünschen!«, stieß sie atemlos hervor. »Was er uns alles angetan hat.«
»Ach, Christine, da hilft kein Verwünschen, da hilft nur abwarten«, versuchte Hedebrink sie zu beschwichtigen.
»Ich kann es kaum länger ertragen«, begehrte Eleonora auf. »Die Armut der Menschen, der Hochmut der französischen Offiziere, die Unverschämtheiten ihrer Soldaten und die ständigen Demütigungen des französischen Kaisers.«
»Seine Hybris wird ihn eines Tages zu Fall bringen«, prophezeite Hedebrink.
»Glauben Sie das wirklich?«
Hedebrink nickte voller Zuversicht. »Und jetzt setzen Sie sich zu mir und lesen mir etwas vor. Um Ihr aufgebrachtes Gemüt zu schonen, werde ich heute ausnahmsweise auf den
Moniteur
verzichten«, sagte er. »Wie wäre es mit etwas Erbaulichem? Vielleicht sogar etwas von unserem großen Meister Goethe. Wissen Sie eigentlich, was Napoleon über ihn gesagt hat?« Eleonora kannte es schon, diesen gespannten Gesichtsausdruck, den lauernd seitlich geneigten Kopf.
»Voilà un homme«, sagte sie widerwillig, vermochte aber ihrerseits, sich am Anblick des geradezu seligen Lächelns, das auf diese Antwort über seine Züge glitt, zu erfreuen. Es schien ihm jedes Mal ein kleiner Triumph zu sein, wenn er ihr Wissen auf die Probe stellte und sie seine Erwartungen nicht enttäuschte.
Er war schon ein besonderer Charakter, dieser blinde Rechtsanwalt, hochintelligent, überaus gebildet, schlagfertig, stets ironisch, ein wenig sarkastisch, ja, manchmal gar zynisch. Aber war das nicht nur eine Schutzschicht, die er sich zugelegt hatte, um dahinter eine sensible Seele zu verbergen?
Kein Mensch hätte sie einfühlsamer und verständnisvoller trösten können, als sie von dem Tod der jungen Königin Luise erfuhr. Die Nachricht davon erschütterte Eleonora bis in die Tiefen ihres Wesens. Mit dem Tod ihrer Königin war für sie endgültig die Verbindung zu ihrem ehemaligen Leben gekappt. Luise war für sie Symbol für eine andere Existenz gewesen, ein Idol, ein leuchtendes Beispiel, nicht nur aus der Ferne idealisiert, sondern durch die persönliche Begegnung zu einem Menschen aus Fleisch und Blut geworden. Neben der Verehrung hatte Eleonora sich über die Jahre hinweg stets eine ehrliche, menschliche Zuneigung für Luise bewahrt.
»Ihre tiefe Trauer berührt mich wirklich sehr«, sagte Hedebrink zu ihr. »Mir kommt es fast so vor, als würden Sie nicht um Ihr Oberhaupt, sondern um eine persönliche Freundin oder gar ein Familienmitglied trauern.«
Eleonora schluckte, aber lieber hätte sie sich die Zunge abgebissen, als ihm zu gestehen, dass er so verkehrt nicht lag.
Nur vierunddreißig Jahre war die junge Königin geworden. Sie starb in Hohenzieritz im Kreise ihrer Lieben. Sie hatte sich so auf den Besuch bei der geliebten Familie in Neustrelitz gefreut und ahnte nicht, dass es ihre letzte Reise sein würde. Nicht nur der König war untröstlich. Als ihr Leichnam im heißen Juli nach Berlin überführt wurde, säumten in Mecklenburg und Preußen weinende Menschen die Straßenränder, um ihrer geliebten Königin die letzte Ehre zu erweisen. Sie wurde im Berliner Stadtschloss aufgebahrt. Berliner, Preußen, Deutsche, Österreicher, Russen, ja, auch Franzosen kamen zu Tausenden, um von ihr Abschied zu nehmen. Am 30 . Juli 1810 sollte sie offiziell im Berliner Dom beigesetzt werden. Eleonora bat Hedebrink darum, ihrer Königin die letzte Ehre erweisen zu dürfen.
»Es ist mir ein tiefes Bedürfnis, und ich bitte Sie darum, mich für zwei Tage nach Berlin reisen zu lassen.«
Hedebrink schwieg, nachdem sie diese Bitte geäußert hatte. Nachdenklich lauschte er in sich hinein und ließ sich quälend lange mit seiner Antwort Zeit. Endlich richtete er sich auf und wandte ihr sein Gesicht zu.
»Fahren Sie,
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