Flamme der Freiheit
Christine, fahren Sie nur. Es fällt mir zwar schwer, auch nur für zwei Tage auf Ihre geschätzten Dienste zu verzichten, aber niemals würde ich mich diesem Herzensanliegen verschließen.«
Eleonora atmete tief durch. Als Hedebrink ihr nun wieder dieses Kinderlächeln schenkte, lächelte sie zurück. Wenn er es auch nicht sah, würde er dennoch wissen, wie sehr sie sich über diese Erlaubnis freute.
25
W ie es Eleonora an diesem 30 . Juli gelang, unter den Tausenden von Menschen noch einen Platz im Berliner Dom zu ergattern, war ihr selbst ein Rätsel. Noch am Vorabend war sie von Hohenschönhausen aus aufgebrochen. Im Morgengrauen hatte sie sich mit der Menschenmenge durch die Straßen und Gassen der preußischen Hauptstadt schieben lassen. Und irgendeine Welle muss sie bis in das Innere des Doms getragen haben. Dicht an dicht stand sie zwischen schluchzenden Frauen, verängstigt weinenden Kindern, Männern, die vergeblich um ihre Fassung rangen, ihre Kiefer aufeinanderpressten, sich immer wieder räusperten und verstohlen mit einem Taschentuch die aufsteigenden Tränen abtupften. Als der König mit tiefen Rändern unter den Augen, sehr blass, aber in aufrechter Haltung den Dom betrat, ging ein Raunen durch die Menge. Beim Anblick der verstörten Prinzessinnen und Prinzen, die ihrem Vater folgten, brachen einige Frauen in lautes Wehklagen aus. Eleonora biss die Zähne fest zusammen. Sie wollte nicht in der Öffentlichkeit weinen. Sie wusste, wenn sie jetzt die Beherrschung verlor, würde innerlich ein Damm brechen und sie nicht mehr aufhören können. Wie eine Erlösung wirkte nun der Einsatz der Orgel, ein lang vermisster, aber immer noch vertrauter Klang. Predigt und Trauerrede des Dompredigers rauschten an ihrem Ohr vorbei. Sie erwachte erst wieder aus ihrer Lethargie, als die Trauergemeinde zum Schlusschoral einsetzte. Eleonora sang mit. Laut und voller Inbrunst. Der Gesang schien ihren Schmerz zu lindern. Es war wie eine Befreiung. Und ihre Stimme?
Woher hatte sie plötzlich diese Kraft, diesen Ausdruck? Eleonora konnte es sich selbst nicht erklären. Seit Jahren hatte sie keinen Unterricht mehr gehabt. Wann hatte sie das letzte Mal aus vollem Herzen gesungen? Mit Pfarrer Behlow auf der Empore seiner Kirche in Frankfurt an der Oder. Aber hatte sie nicht schon einmal auch hier auf dieser Empore gestanden? Sie hatte die Erinnerung daran so tief in ihrem Inneren vergraben, dass diese zunächst nur schemenhaft wieder zu ihrem Bewusstsein gelangte. Wann war das gewesen? Auch dies ein trauriger Anlass, nämlich der Abschied von ihrer geliebten Gräfin Dorothea. Eleonora sang. Jede Strophe des langen Chorals sang sie mit, sie kannte alle seine Strophen noch auswendig. Sie bemerkte gar nicht, dass die um sie stehenden Menschen sie zunächst überrascht von der Seite musterten, verstohlen zu ihr auf Abstand gingen, immer leiser und leiser sangen und schließlich gänzlich verstummten. Sie bekam auch nicht mit, wie sie nun schrittweise zurücktraten, irgendjemand sie sanft bei den Schultern nahm und nach vorne in die erste Reihe schob. Schließlich hatten die ihr am nächsten stehenden Trauergäste sogar einen Halbkreis um sie gebildet und hörten ihr andächtig zu. Die übrigen Gottesdienstbesucher bemerkten von diesem Zwischenspiel zunächst nichts, sondern sangen unverdrossen weiter. Eleonora hatte in ihrem unmittelbaren Umkreis einen eigenen Auftritt. Sie bemerkte es selbst nicht, bemerkte auch nicht, dass sie die Augen geschlossen hielt und den Kopf in den Nacken gelegt hatte, als wollte sie direkt zum Himmel emporsingen. Erst als die Musik endete, kam sie wieder zu sich. Sie öffnete die Augen und schaute verwirrt umher. Ein Halbkreis wildfremder Menschen stand um sie herum und schien immer noch dem verhallten Klang ihrer Stimme nachzulauschen. Erst ganz allmählich schlossen sie wieder zu ihr auf. Eleonora senkte den Kopf und ließ sich widerstandslos zurück in eine der hinteren Reihen schieben. Sie war froh, so schnell wieder in der Anonymität verschwinden zu können, denn sie hatte vorne in den ersten Reihen der Kirchenbänke einige Trauergäste entdeckt, die ihr nicht unbekannt waren. Es waren Angehörige des hohen preußischen Adels, die im Prewitzschen Stadtpalais ein und aus gegangen waren. Dazu die Mitglieder der königlichen Familie. Etliche hatten sich erstaunt herumgedreht, um zu sehen, woher dieser wunderbare Gesang kam. Zu ihrem Erschrecken hatte sie auch das erstaunte Gesicht der Prinzessin
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