Flamme der Freiheit
Niemals!
Diese schmerzliche Erkenntnis traf Eleonora wie ein Schlag. Umso mehr Gefühl legte sie nun in den Choral, den sich Charlotte zum Ausklang ihres Hochzeitsgottesdienstes gewünscht hatte.
»Wo du hingehst, da will auch ich hingehen«, hub Eleonora voller Inbrunst an.
Die Hochzeitsgesellschaft hatte sich bereits erhoben und schritt gemessen Richtung Kirchenportal. Unwillkürlich trat Eleonora an das Geländer der Empore, um noch einen Blick auf Charlotte werfen zu können. Den langen Schleier ihres Hochzeitskleides hatte sie doch noch niemals in seiner ganzen Pracht gesehen.
»Wo du bleibst, da will auch ich bleiben«, sang Eleonora.
Erst jetzt bemerkte sie Alexander, der sich zwar von seinem Sitz erhoben hatte, aber unbeweglich stehen blieb. Er lauschte ihrem Gesang, voller Konzentration und Hingabe. Kein anderer Mensch in der Kirche hörte in diesem Moment so genau zu wie Alexander.
»Dein Volk ist mein Volk, und dein Gott ist mein Gott«, sang Eleonora.
Alexander hob den Kopf, schien nach der Sängerin zu suchen. Ihre Blicke trafen sich, hielten aneinander fest, konnten sich nicht voneinander lösen.
»Wo du stirbst, da sterbe ich auch, da will ich auch begraben werden«, sang Eleonora und legte noch mehr Kraft in ihre Stimme.
Sie sah, wie nun Karoline von der Marwitz Alexanders Blick folgte und sie oben auf der Empore entdeckte.
»Der Herr tue mir dies und das, der Tod muss dich und mich scheiden«, beendete Eleonora unbeirrt das Lied.
Erst als sie geendet hatte, löste sie ihren Blick von Alexander. Sie faltete die Hände und senkte den Kopf. So verharrte sie in stiller Andacht oben auf der Empore, bekam aber aus dem Augenwinkel genau mit, wie Karoline Alexander jetzt unterhakte und den noch immer den Klängen Bachs Nachlauschenden energisch durch das Kirchenschiff Richtung Ausgang zog.
Völlig erschöpft ließ Eleonora sich auf die Orgelbank fallen und schlug die Hände vors Gesicht. Sie begann am ganzen Körper zu zittern. Mühselig unterdrückte sie ein aufsteigendes Schluchzen. Wäre sie alleine gewesen, hätte sie ihren Tränen freien Lauf gelassen. Aber sie war nicht alleine. Nur hatte sie die Anwesenheit von Balduin Schilling, der sie ja die ganze Zeit auf der Orgel begleitet hatte, vollständig vergessen. Nun aber spürte sie einen sanften Druck um ihre Schultern.
»Sie haben wunderbar gesungen, wie ein Engel«, sagte ihr Lehrer und rüttelte sie sanft. »Ich bin stolz darauf, Sie heute begleitet zu haben. Es war auch für mich ein Erlebnis.«
»Sie haben auch ganz wunderbar gespielt. Ohne Sie hätte ich niemals so gut singen können«, erwiderte Eleonora mit erstickter Stimme.
Sie spürte, wie er vorsichtig die Hände von ihrem Gesicht wegzog. Sie ließ ihn gewähren und schlug die Augen auf. Balduin Schilling kniete jetzt vor ihr, so dass sich ihre Gesichter auf gleicher Höhe befanden.
»Mademoiselle Prohaska, wahrscheinlich bin ich der Einzige von all diesen vielen Menschen, der soeben dieses kleine Interludium mitbekommen hat«, sagte er vorsichtig.
»Was für ein Interludium?«, fragte Eleonora unwillig.
»Mademoiselle, ich bin Künstler, ein sensibler Musiker mit einem feinen Gespür für Schwingungen jeglicher Art. Mir können Sie nichts vormachen«, erwiderte Schilling gelassen. »Sie empfinden etwas für den jungen Grafen Alexander, etwas mehr sogar, um nicht zu sagen, zu viel, und wie ich beobachtet habe, scheinen auch Sie ihm nicht vollständig gleichgültig zu sein.«
»Wirklich?«, vergewisserte sich Eleonora atemlos.
Schilling schüttelte unwillig den Kopf. »Eine Laune des Augenblicks, ein kurzes aufflackerndes Interesse. Diese Art Mensch ist zu tieferen Gefühlen überhaupt nicht fähig«, behauptete er verächtlich.
»Sie kennen Graf Alexander doch gar nicht«, widersprach Eleonora.
»Ach, Mademoiselle Prohaska, wenn Sie wüssten, wie gut ich diesen Schlag Menschen kenne, leider nur zu gut«, seufzte Schilling. »Seit Jahren gehe ich in deren Häusern ein und aus, weil ich als Musiklehrer gefragt bin. Bei aller Begabung, die es auch in den Häusern des hohen Adels gibt, fehlt es diesen Menschen doch stets an der Tiefe und Beharrlichkeit, so auch Ihrem Alexander.«
»Er ist doch gar nicht ›mein‹ Alexander«, widersprach Eleonora traurig. »Und wird es auch niemals sein«, setzte sie leise hinzu.
Schilling strich ihr väterlich über die Wange. »Das sehen Sie vollkommen richtig, Demoiselle Prohaska«, sagte er. »Er würde sich niemals zu Ihnen
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