Flamme von Jamaika
nicht getan hätte, wären wir jetzt alle tot. Nur der Umstand, dass sie weder reden noch schreiben, noch selbst entscheiden kann, wo sie hingeht, bewahrt uns sicher davor, dass sie uns und unser Lager an die weißen Soldaten verrät.»
Jess ließ Babas Arm so heftig fahren, dass sie rückwärtsstolperte. Dann trat er mit einer Entschlossenheit auf Desdemona zu, als ob er beabsichtigte, ihr den Schädel zu spalten. Baba schrie auf und riss ihn am Arm zurück, doch er schüttelte sie nur ab wie eine lästige Fliege.
«Wenn du sie nicht auf der Stelle wieder gesund machst, Hexe, werde ich dich töten, so wahr ich hier stehe», fauchte er bedrohlich leise. «Ich werde deine Hütte abbrennen, mit allem, was darin ist. Und deinen Leichnam werde ich den Truthahngeiern zum Fraß vorwerfen. Das verspreche ich dir!»
«Jess!», rief Baba, und ihre Stimme überschlug sich fast. «Wie kannst du nur! Desdemona hat dein Leben gerettet und das aller Lagerbewohner. Du warst nicht mehr Herr deines Verstandes!»
«Schweig, Weib!», knurrte er und wandte sich mit einem äußerst bösartigen Blick zu ihr um. «Oder du bist die längste Zeit deines Lebens meine Mutter gewesen.»
Bei seinem Anblick wurde Baba angst und bange. Nie im Leben hatte sie ihren Sohn so hasserfüllt erlebt. Es war, als ob eine Horde Dämonen in ihn gefahren wäre.
«Lass ihn, Baba», beruhigte Desdemona. «Das Schicksal sucht sich immer seinen Weg. Da hilft auch der stärkste Zauber nicht. Das Rad der Zeit hat sich zu drehen begonnen, und wir werden es nicht aufhalten können.»
«Ganz gleich, was du da faselst», erwiderte Jess aufgebracht. «Gib mir ein Mittel, das sie ins Reich der Lebenden zurückholt. Tust du es nicht, werde ich dich zu den Ahnen schicken und damit dein Schicksal schneller erfüllen, als dir lieb ist!»
«Du liebst sie?» Desdemona sah ihn mit ihren blinden Augen durchdringend an.
«Mehr als mein Leben», antwortete Jess hörbar leiser. «Aber das ist es nicht, das mich vorantreibt. Ich habe ihr mein Wort gegeben, dass ihr nichts Böses geschieht, wenn sie uns hilft, die Todgeweihten aus dem Gefängnis zu befreien. Und obwohl sie auf der Flucht vor ihrem Ehemann war, hat sie sich den drei jungen Männern zuliebe bereit erklärt, zu Edward Blake zurückzukehren. Sie hat mir ihr Wort gegeben, dass sie uns nicht an die Weißen verrät, falls sie von Polizei und Militär verhört wird. Damit es erst gar nicht dazu kommt, habe ich versprochen, ihr bei der anschließenden Flucht nach Europa zu helfen. Wenn uns das wie geplant gelungen wäre, hätten wir erst gar nicht um unsere Sicherheit fürchten müssen. Wegen meiner Mutter und ihrer kruden Ideen muss sie nun schon drei Monate in dieser Hölle ausharren und sich von Edward Blake vergewaltigen lassen. Nun ist sie schwanger …»
Jess brach die Stimme. Desdemona nickte einsichtig.
«Ich kann verstehen, was in dir vorgeht. Auch du hast einen Schwur geleistet, den du wegen uns nicht einhalten konntest. Deshalb sehe ich mich gezwungen, dir zu helfen.»
Während Baba noch immer wie erstarrt ihren Sohn angaffte, wandte sich Desdemona einem Regal mit Tongefäßen zu. Auf diesem verwahrte sie, nach Babas Wissen, die stärksten und wirkungsvollsten Mittel. Unter den vielen verschlossenen Gefäßen nahm sie eine kleine, gläserne Phiole an sich und übergab sie Jess.
«Gib ihr das zu trinken, und in wenigen Stunden wird sie so sein wie zuvor. Aber geh vorsichtig damit um. Ich weiß nicht, wann die Geister mir noch mal ein solches Gegenmittel brauen.»
Jess atmete regelrecht auf und ließ das Fläschchen in seiner Jackentasche verschwinden. Dann drehte er sich ohne ein weiteres Wort um und verschwand nach draußen. Baba blieb wie angewurzelt stehen und blickte ihm fassungslos hinterher. Mit Tränen in den Augen wandte sie sich Desdemona zu.
«Hab ich ihn verloren?» Baba hatte das Gefühl, in einen dunklen Abgrund zu stürzen. «Sag es mir, Desdemona, wird er zu mir zurückkommen, oder wird er mich bis an mein Lebensende hassen?»
«Ich hatte dich gewarnt», sagte sie leise. «Die Ahnen verlangen ein Opfer, wenn wir um einen solch starken Zauber bitten.»
Baba war ganz starr vor Angst. Schweiß trat ihr auf die Stirn.
«Heißt das, er muss nun sterben?»
«Es ist möglich, dass das der Preis ist, den du zu zahlen hast.»
Jess marschierte zu den Stallungen, um sein Muli zu holen. Dabei versuchte er, die kalte Wut, die er bei den Machenschaften seiner Mutter empfand, zu verdrängen.
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