Flamme von Jamaika
womöglich entführen lassen, um ihrem Fluch höchstpersönlich zu seiner Bestimmung zu verhelfen! Hatte sie ihr nicht den Tod an den Hals gewünscht? Aber warum hat sie ausgerechnet mich ausgesucht? dachte Lena. Ich hab der Alten doch gar nichts getan! Das ist nicht gerecht. Wer sagt denn, dass die Welt gerecht ist? hatte ihr Vater immer gefragt, wenn sie ihn nach einem Grund für den Unterschied zwischen arm und reich oder gesund und krank gefragt hatte. Ihr Instinkt sagte ihr dennoch, dass es Gründe dafür geben musste, was hier gerade geschah. Obwohl es ihr schwerfiel, nahm Lena all ihren verbliebenen Mut zusammen.
«Was wollen Sie von mir?», fragte sie kühn.
Stille.
«Hören Sie», versuchte Lena ihr Glück noch einmal. «Ich habe kein Geld bei mir. Und, bei Gott, mein Mann, der zwar welches besitzt, wird nicht für mich zahlen!»
«Dein Geld kannst du dir in den Hintern stecken, Schätzchen!», amüsierte sich die Kratzstimme. «Hier geht’s nicht um dein Geld, sondern um dein Leben. Und wenn dein vornehmer Gatte nicht tut, was wir von ihm verlangen, bekommt er dich als kalte Leiche serviert! Kann mir kaum vorstellen, dass ihn das amüsiert!»
«Das können Sie nicht tun», keuchte Lena verzweifelt. «Verraten Sie mir, was mit meiner Freundin geschehen ist?», bettelte sie und betete gleichzeitig dafür, dass Maggie nichts Schlimmes zugestoßen war.
«Man hat dich alleine hierhergebracht», antwortete die Stimme ungeduldig, was wenig aufschlussreich war.
Lena versuchte Zeit zu gewinnen.
«Ich muss mal», erklärte sie drängend. «Können Sie mir kurz die Augenbinde und die Fesseln abnehmen, damit ich den Abort finden kann?»
Die Alte lachte keckernd.
«Hier gibt es keinen Abort. Du wirst mit einem Eimer vorliebnehmen müssen. Und nein, Binde und Fesseln bleiben. Wenn du auch nur einen von uns zu sehen bekommst, ist das dein Todesurteil. Und wenn du versuchst, von hier abzuhauen, musst du ebenfalls sterben!»
Sie hatte eindeutig ‹uns› gesagt, was Lena in der Vermutung bestärkte, dass die Frau nicht allein für ihre Gefangennahme verantwortlich war. Allem Anschein nach hatte sie Helfer, sodass die Situation für Lena noch aussichtsloser erschien.
Mit festem Griff packte die Alte sie am Arm und zog sie hoch. Nach ein paar Schritten hörte Lena ein schepperndes Geräusch.
«So», erklärte ihre Peinigerin.
«Hier steht der Eimer. Jetzt mach die Beine breit und stell dich darüber.»
Entsetzt spürte Lena, wie die Frau ihr die Röcke hob.
«Grundgütiger!», entfuhr es ihr. «Sind wir allein, oder sieht mich jemand?»
«Hier stehen gerade hundert Männer und glotzen dich an», spöttelte die Alte. «Soll ich ihnen noch mehr zeigen?»
Das war ein schlechter Scherz, wie Lena sich denken konnte, und doch machte sie der Gedanke nervös, bei der Verrichtung ihrer Notdurft beobachtet zu werden. Zaghaft ließ sie sich auf den Eimer nieder.
«Und wie putze ich mir den Po ab?», fragte sie, nachdem sie sich erleichtert hatte.
«Gar nicht», brummte die Alte. «Das gehört nicht zu meinen Aufgaben.»
Lena wurde zurück zu ihrer Strohmatte geführt, die so unglaublich stank, dass sie sich am liebsten erbrechen wollte.
«Wie lange bin ich schon hier?»
Durch ihre Ohnmacht hatte sie jegliches Zeitgefühl verloren, und unter der Augenbinde war es die ganze Zeit stockfinster. Nicht mal der Schimmer von Tageslicht war zu erkennen.
«Das tut nichts zur Sache», erwiderte die Alte. «Du setzt dich jetzt hierhin und wartest, bis ich dir Essen bringe. Hast du gehört?»
«Sparen Sie sich die Mühe», erwiderte Lena trotzig. «Ich hab keinen Hunger.»
«Und ob du was essen wirst», warnte sie die Alte. «Ich werde mir nicht nachsagen lassen, dass ich meine Pflichten vernachlässige.»
«Hier gibt es Ratten», versuchte Lena, die Ermanglung ihres Appetits zu erklären. «Macht Ihnen das gar nichts aus? Also mich gruselt es.»
«Das ist doch ein wunderbarer Vorteil dieses Ortes», erwiderte ihre Widersacherin mit hämischer Stimme. «Somit gehen uns die Fleischvorräte nie aus. Was glaubst du, wie gut ein Ragout aus frisch erlegten Ratten schmeckt?»
Lena war, als habe ihr jemand in den Magen geschlagen. Nur mühsam konnte sie das Würgen unterdrücken.
«Ich sagte doch, ich hab keinen Hunger», presste sie atemlos hervor. «Und angesichts Ihres überragenden Speisenangebots wird sich daran auch kaum etwas ändern.»
Kapitel 13
September 1831 // Jamaika // Bittere Wahrheiten
S tundenlang hatte
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