Flamme von Jamaika
Lena gegrübelt, wie sie sich am besten aus ihrer üblen Lage befreien konnte. Um sie herum herrschte tiefste Finsternis. Moder, Feuchtigkeit und allerlei sonstige Gerüche, denen sie lieber keinen Namen geben wollte, erfüllten die Luft. Allem Anschein nach war sie in diesem Loch völlig auf sich allein gestellt, wenn man von den gelegentlichen Besuchen dieser schrecklichen Alten einmal absah.
Unvermittelt keimte jener rebellische Widerstand in Lena auf, den ihre Gouvernanten in der Schweiz stets als Charakterschwäche bezeichnet hatten. Ihr Plan war, zunächst ihre Fesseln loszuwerden, damit sie die Augenbinde nach Belieben auf- und absetzen konnte. Gott sei Dank waren es nur gewöhnliche Stricke und keine Ketten, mit denen man ihre Hände gebunden hatte. Vorsichtig ging sie auf die Knie und ertastete die scharfen Kanten eines Felsvorsprungs. Rücklings wollte sie versuchen, die Stricke so lange an dem Felsen zu scheuern, bis sie dünn wurden und sich zerreißen ließen.
Ich werde diesem Gesindel zeigen, zu was eine patente Hamburgerin fähig ist!
Grimmig ging sie ans Werk und scheuerte unermüdlich das Seil an der scharfen Kante. Ihre Schultern begannen zu schmerzen. Zwischendurch horchte sie immer wieder in die Dunkelheit hinein, ob jemand kam, der sie bei ihrem Tun entdecken würde. Niemand war zu hören, und leider waren die Stricke stabiler als gedacht. Je länger sie scheuerte, umso mehr verlor sie an Kraft. An Ausruhen war jedoch nicht zu denken, weil die Alte jeden Moment zurückkehren konnte. Wenn sie Lenas Befreiungsbemühungen entdeckte, würde man sie mit Sicherheit hart bestrafen oder ihr sonst was antun.
Als die Qual durch die ermüdende Armbewegung zunehmend größer wurde, versuchte sie noch einmal an den Stricken zu zerren. Und tatsächlich, plötzlich gab das Material nach, und ihre Hände und Arme waren mit einem Schlag frei. Lena konnte es kaum fassen. Hastig zog sie sich die Augenbinde herunter und starrte verblüfft in ein düsteres Nichts. Für einen Moment befürchtete sie, erblindet zu sein. Doch dann hoben sich grauschwarze Umrisse aus der Düsternis ab. Sie befand sich in einer Höhle! Ein langer, in den Felsen gehauener Gang zeichnete sich ab, an dessen Ende ein zartes Grau schimmerte, das vom anbrechenden Tageslicht herrühren musste. Doch an Flucht war trotz wiedererlangter Sehfähigkeit nicht zu denken. Lena sah, dass ihr Gefängnis von einem starken Eisengitter mit einer Tür begrenzt wurde, das man an Boden und Decke fixiert hatte. Zu dumm, dass ebendiese Tür mit einem monströsen Schloss verriegelt war. Lena näherte sich dem Zugang und rüttelte in einer vagen Hoffnung an dem Gitter. Vergebens.
Lieber Herr Jesu, hilf!, dachte sie niedergeschlagen. In ihrer Verzweiflung schaute sie sich suchend um und entdeckte ein armlanges, massives Teakholzbrett, das aus einem Berg von Unrat hervorschaute und wahrscheinlich einem ihrer Vorgänger als Sitzunterlage gedient hatte. Sogleich entwickelte sich vor ihrem geistigen Auge ein waghalsiger Plan. Sollte die Alte ruhig kommen, dann sollte sie ihr blaues Wunder erleben.
«Cato verlangt nach dir.»
Nathans Stimme klang besorgt, als er die abgeschiedene Kalksteinhöhle betrat, in der Jess mit einigen anderen Kriegern sein Lager aufgeschlagen hatte. Ein paar Strohmatten, mit Schaffellen versehen, dienten ihnen als Bett auf dem nackten Steinboden, und eine alte Munitionskiste beherbergte das wenige, was Jess an Kleidung besaß. Dazu seine Waffen: zwei Pistolen, eine Machete und ein Gewehr, dessen langen Lauf er soeben mit einem verschlissenen Baumwolltuch geputzt hatte. Weiter hinten in der Höhle, etwas abseits der Schlafstätten, standen weitere Kisten mit Bleikugeln und Pulver, die sie beim letzten Überfall auf eine Militärpatrouille erbeutet hatten.
Jess hob den Kopf und nickte, wobei er ahnte, dass Nathans harmlose Aufforderung, die Hütte des Ältesten aufzusuchen, nichts Gutes bedeuten konnte. Am Abend zuvor hatte Jess die wichtigsten Männer des Rates über seine Entscheidung, die Frau spontan zu entführen, informiert. Auch die Maroon-Häuptlinge wussten dank Kojo inzwischen Bescheid. Aber das hieß noch lange nicht, dass alle Entscheidungsträger des Lagers von seinem Vorgehen begeistert waren. Ausgerechnet Sir Edward Blakes frisch angetraute Ehefrau als Geisel zu nehmen, nur um die Freilassung der zum Tode verurteilten jungen Sklaven zu erpressen, war eine überaus heikle Idee. Manch einer hatte Jess wegen seines tollkühnen
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