Flammen der Rache
Sie erinnerte sich an die Adresse eines Frauenhauses dort, weil Nina sie gelegentlich dazu überredet hatte, nachts die Hotline zu betreuen.
Ihre Schnittwunde und die blauen Flecken stützten ihre Notlüge über einen eifersüchtigen Freund, der sie mit einem Messer attackiert hatte. Sie bekam einen Schlafplatz und das Angebot einer Krisenberatung. Aber sie konnte den Leuten dort nichts erzählen, und Nina durfte sie ebenso wenig anrufen. Sie würde sie sonst alle in Gefahr bringen.
Lily war von dort verschwunden, sobald sie es gewagt hatte, und seither permanent auf der Flucht.
Sie sehnte sich danach, Nina anzurufen und ihr zu sagen, dass sie in Sicherheit war. Aber sie musste davon ausgehen, dass diese Leute Ninas Post, ihre E-Mails, ihren Festnetzanschluss und ihr Handy überwachten.
Abgesehen davon war sie nicht in Sicherheit. Wozu sollte sie also lügen? Oder überhaupt etwas sagen?
Sie wusste nicht mal, wo sie anfangen sollte. Sie war so schwach und unwissend, ihr Gegner so mächtig und mysteriös. Aber zumindest hatte Howard ihr einen ersten Anhaltspunkt gegeben – und mit dem Leben dafür bezahlt. Folglich musste dieser kryptische Hinweis für jemanden sehr wichtig sein.
Magda Ranieri und ihr Tod standen in Zusammenhang mit diesem ganzen Wahnsinn. Gott allein wusste, wie. Aber vielleicht – nur vielleicht – wusste es auch ihr Sohn Bruno.
Bruno kam an ihrem Tisch vorbei und schenkte ihr ein weiteres atemberaubendes Lächeln. Lily lächelte zurück, bevor sie sich stoppen konnte.
Du musst dich unnahbar geben
, rief sie sich in Erinnerung.
Lily hatte recherchiert und nur wenige Informationen herausgefunden. Magda Ranieri war 1993 in Newark, New Jersey, ermordet worden. Ihrer Todesanzeige zufolge waren ihre Hinterbliebenen ihre Mutter, Giuseppina Ranieri, und ihr Sohn, Bruno Ranieri. Es wurde nirgendwo erwähnt, dass ihr Mörder gefasst und verurteilt worden wäre, und über das Mordmotiv gab es auch keine Spekulationen. Mehr konnte Lily aus den Zeitungsarchiven der Bibliothek nicht in Erfahrung bringen.
Aber Bruno könnte ihr womöglich einen Hinweis liefern. Immerhin sollte er es »wegsperren«, was immer »es« sein mochte. Er musste wissen, was »es« war, und damit auch, wer »sie« waren. Was »sie« wollten. Richtig?
Ihre Suche endete hier, in Tonys Diner, wo sie mit voller Wucht gegen die Wand gelaufen war. Denn Bruno zu fragen, ob er ihr helfen konnte, war kein einfaches Unterfangen. Tatsächlich war es schlicht unmöglich. Sie malte es sich im Geist aus.
Nett, Sie kennenzulernen, Bruno. Ich spioniere Sie nun schon eine ganze Weile aus. Jemand versucht, mich umzubringen, und ich schätze, dass dieser Jemand irgendwie in Verbindung steht mit dem traumatischsten Erlebnis Ihrer gesamten Kindheit. Wenn Sie also so freundlich wären, mir, einer völlig Fremden, sämtliche Details des brutalen Mords an Ihrer Mutter zu schildern?
Genau, damit wäre das Gespräch dann ziemlich rasch beendet.
Lily hatte in Erwägung gezogen, ihm einfach die Wahrheit zu sagen und ihn um Hilfe anzuflehen, aber sie konnte kein schlichtes »Nein« riskieren. Oder schlimmer noch ein
Halten Sie sich von mir fern, sonst erwirke ich eine einstweilige Verfügung
. Exakt das hätte sie in ihrem früheren Leben nämlich gesagt, wenn jemand mit einem derartigen Ansinnen an sie herangetreten wäre.
Sie hatte keine weiteren Anhaltspunkte. Sie musste clever vorgehen, sich mit ihm bekannt machen, sein Vertrauen gewinnen. Das war der Plan. Aber der perfekt geformte Hintern des Mannes hatte ihre Festplatte gelöscht wie ein ultrastarker Magnet. Diese Lustattacke entsprach überhaupt nicht ihrer sonstigen Reaktion auf das männliche Geschlecht, die in der Regel von Angst oder Abscheu bestimmt wurde. Die Männer, mit denen sie sich bisher eingelassen hatte, waren nur für eine einzige Sache gut gewesen, und selbst das nur, wenn ein Feiertag zufällig mit einem Vollmond zusammenfiel.
Lily genehmigte sich noch einen Bissen von dem sündhaft guten Bananencremekuchen. Sie hatte mehr als die Hälfte von beiden Portionen vertilgt. Eigentlich sollte man annehmen, dass es keine bessere Diät geben könnte, als um sein Leben zu laufen, aber auch in dieser Hinsicht war sie eines Besseren belehrt worden. Auf der Flucht standen einem in der Regel nur Minimärkte, Busbahnhöfe, Hot Dogs, Hamburger und Pizzaschnitten zur Verfügung. Man hatte keinen Zugang zu einer richtigen Küche oder einem gefüllten Kühlschrank mit Gemüse oder Salat.
Weitere Kostenlose Bücher