Flammen des Himmels
»Sie werden uns mit Jubel empfangen, denn wir gehören zur wahren Herde unseres Herrn Jesus Christus. Unsere Brüder sind bereits die Herren in Münster. Kein römischer Pfaffe oder Mönch wagt sich noch in diese Stadt hinein! Die Lutherschen Prediger haben sich uns entweder angeschlossen oder werden ebenso vertrieben wie alle anderen, die nicht unseres Glaubens sind. So hat unser ehrwürdiger Prophet Matthys es uns prophezeit.«
»Warum hat Jan Matthys uns dann verlassen und ist nicht mitgekommen?«, fragte Helm weiter.
»Weil er andere Brüder aufsuchen muss, die an fernen Orten leben, und sie auffordert, es uns gleichzutun«, antwortete der Mann.
»Frag nicht so viel!«, wies Hinrichs seinen Sohn zurecht. »Du bist ja noch schlimmer als Frauke. Ich hoffe, sie weiß ihr Mundwerk besser zu beherrschen, wenn sie wieder mit uns vereint ist, sonst …«
»Aber wird sie das wirklich? Sie war doch noch nicht richtig getauft, als sie starb!« Daran hatte Helm bisher noch nicht gedacht.
Sein Vater zog eine besorgte Miene. »Wir werden sehen, wie weit ihr die Gnade unseres Herrn Jesus Christus zuteilwird. Wenn sie sich ihm in wahrhaftiger Demut genähert hat, mag es sein, dass sie an seiner Seite vom Himmel herabsteigen darf.«
»Und wenn nicht, schmort sie dann für immer in der Hölle?«
Für diese Frage erhielt Helm eine Ohrfeige, die ihm den Kopf zur Seite riss. Auch wenn Hinrichs an der jüngeren Tochter weniger lag als an seinen anderen Kindern, so wollte er das nicht hören.
Während des kurzen Disputs hatten sie den Graben erreicht und schritten über die Brücke auf das Ägidiustor zu. Dieses wurde von zwei Stadtknechten und mehreren Söldnern bewacht. Zu ihnen gehörte auch Arno, der den Dienst beim Brackensteiner Fähnlein verlassen hatte und unterwegs von einem der wiedertäuferischen Stadträte angeworben worden war. Obwohl Arno bislang eher lutherisch gesinnt gewesen war, hatten Bernhard Rothmanns Predigten ihn begeistert.
Was war, fragte er sich, wenn Jan Matthys’ Prophezeiung eintraf und das Ende der Welt bevorstand? Anzeichen dafür gab es genug. Waren denn die schrecklichen Aufstände der Bauern und die Plünderung Roms durch die Landsknechte Kaiser Karls V. nicht die Vorboten des Jüngsten Gerichts gewesen? Hatte Gott nicht vor wenigen Jahren unzählige Menschen durch eine Seuche vom Angesicht dieser Erde getilgt?
Arno wusste immer noch nicht so recht, was er denken und glauben sollte, aber er tat seine Pflicht und hielt die Neuankömmlinge auf.
»Wer seid ihr, und wo kommt ihr her?«, fragte er barsch.
»Wir sind von weit gekommen und dem Zeichen des Herrn gefolgt, das unser großer Prophet Jan Matthys empfangen hat«, antwortete einer der Männer, anstatt die Gruppe, wie Hinrichs es getan hätte, als harmlose Reisende auszugeben.
Hinrichs’ Besorgnis erwies sich als unbegründet, denn Arno und die anderen Torwächter begrüßten die Gruppe freundlich, und der ehemalige Brackensteiner Landsknecht erbot sich, sie zu Bernd Knipperdollings Haus zu führen.
»Dieser Herr hat hier in der Stadt neben dem ehrenwerten Prediger Bernhard Rothmann das meiste zu sagen«, erklärte er ihnen. »Auch ist er für die Unterbringung der neuen Brüder verantwortlich und wird auch euch euer neues Heim zuweisen. Auswahl gibt es genug, denn wir haben die falschen Mönche und Pfaffen des Papstes vertrieben und etliches Volk dazu, welches sich unserem Willen zu widersetzen gewagt hat.«
Zwar weilte Arno erst seit kurzem in der Stadt, tat aber so, als hätte er an all diesen Dingen selbst teilgenommen. Die Achtung der Neuankömmlinge vor ihm wuchs sichtlich, und sie folgten ihm wie eine Herde Schafe zu Knipperdollings Haus am Hauptmarkt.
Dort hatte sich viel Volk versammelt, unter ihnen etliche Söldner, die in Listen eingeschrieben und vereidigt wurden. Andere Täufer suchten gleich Hinrichs und dessen Gruppe ein Obdach, und weiter vorne lauschte eine große Menschenmenge einem Mann, der das Nahen des Jüngsten Gerichts predigte.
»Ist das Stutenbernd Rothmann?«, fragte Hinrichs, der diesen Namen von Jan Matthys gehört hatte.
Eine kräftig gebaute Frau, die ihrer Tracht nach aus Holland stammte, drehte sich mit wutverzerrtem Gesicht zu ihm um. »Du wagst es, den ehrwürdigen Prediger zu schmähen?«
Erschrocken hob Hinrichs die Hände. »Verzeih, ich habe es nicht böse gemeint. Der Prophet Jan Matthys sagte, die Feinde hätten ihn so genannt, doch sei aus dem Schimpfwort ein Ehrentitel
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