Flammen des Himmels
Frauke das Gefäß und leerte es. Dabei sah sie Lothar an und zuckte auf einmal zusammen. Unter dem Eindruck der Geschehnisse stehend, hatte er vergessen, seine Stimme zu verstellen, und zusammen mit seinem ernsten Gesicht brachte sie dies auf die richtige Spur. Zuerst wollte sie ihren Verdacht nicht glauben, dann aber sagte sie sich, dass sie sich Gewissheit verschaffen müsse. Mit einem Schritt war sie bei Lothar und griff ihm an die Brust. Dort, wo der Busen einer Frau sein sollte, ertastete sie nur ein wenig Stoff, der eine nicht vorhandene Fülle vortäuschen sollte.
Erschrocken wich sie zurück. »Du bist … Ihr seid Herr Lothar Gardner!«
Hilflos stand Lothar vor ihr und sagte sich, dass er ein Narr gewesen war, die Nähe des Mädchens zu suchen. Gleichzeitig aber begriff er, dass sein Leben und sein Schicksal nun in Fraukes Hand lagen. Wenn sie ihn verriet, würden die Anführer der Wiedertäufer kurzen Prozess mit ihm machen. Wozu Matthys und die Männer um ihn herum fähig waren, hatten sie an diesem Tag nur allzu deutlich gezeigt.
Bevor er seine Sprache wiedergefunden hatte, ergriff Frauke erneut das Wort. Jetzt verwendete sie wieder die förmliche Anrede, und in ihrer Stimme schwangen Enttäuschung und Scham mit. »Ihr habt mich getäuscht! Da ich glaubte, Ihr wärt eine Frau, habe ich Euch Dinge anvertraut, die Ihr niemals hättet erfahren dürfen.«
»Du hast mir nichts erzählt, dessen du dich hättest schämen müssen«, versicherte Lothar ihr.
Er fasste nach ihren Händen und hielt sie fest. »Hör mich an! Es geht um unser beider Wohl. Niemand darf erfahren, wer ich bin.«
»Ihr habt Angst, sie würden Euch umbringen?« Obwohl Frauke noch ablehnend klang, wusste sie, dass sie um Lothars willen schweigen würde, weil sie niemals zulassen wollte, dass er ein elendes Ende fand.
»Ja, die habe ich!«, bekannte Lothar offen. »Wenn du mich verrätst, bin ich bald mausetot.«
Frauke hob die Nase, dass diese beinahe an der Decke streifte. »Ihr müsst eine entsetzlich schlechte Meinung von mir haben, wenn Ihr mir dies zutraut. Oder glaubt Ihr, ich hätte vergessen, dass Ihr mich vor dem Inquisitor Gerwardsborn gerettet habt?«
»Nein, das nicht, aber …«
»Schweigt!«, trumpfte Frauke auf. »Ich verdanke Euch mein Leben und das meiner Mutter und meiner Schwester. Wie sollte ich Euch verraten? Obwohl Ihr es wahrscheinlich nicht wert seid!«
Den letzten Satz musste sie noch hinzufügen, um ihm zu zeigen, wie sehr sie sich von ihm hintergangen fühlte. Was sollte sie denn jetzt tun? Lotte galt als ihre Freundin, doch da sie in Wahrheit ein Mann war, konnte sie nicht noch einmal zu ihm kommen und so tun, als wäre er eine Frau. Sollte sie vielleicht einen Streit vorschieben?
»Hör mir zu!«, bat Lothar sie. »Ich bin hier, um zu beobachten, was in der Stadt vor sich geht.«
»Warum das denn?«, fragte Frauke.
»Ich sende meinem Vater Botschaft, damit er Franz von Waldeck entsprechend beraten kann. Dies ist wichtig, um in der Stadt die Ordnung wiederherstellen zu können.«
»Ihr seid also ein Feind und wollt uns alle vernichten!«
Frauke kamen die Tränen. Tatsächlich fühlte sie sich zum ersten Mal als Teil der Gemeinschaft der Täufer. Dabei war ihr dennoch bewusst, dass sie Lothar nicht verdammen dürfe. Immerhin war er der Sohn eines der engsten Berater des Fürstbischofs und sah es als seine Pflicht an, diesem zu helfen, des Aufruhrs in der Stadt Herr zu werden.
»Ich mag sein, was ich will, aber ich bin niemals dein Feind, Frauke«, bekannte Lothar. »Wenn es einen Weg gibt, dich und die Deinen zu retten, werde ich ihn beschreiten, mag es dem Fürstbischof und meinem Vater gefallen oder nicht.«
Ihm war es ernst, das spürte Frauke, und seine Worte legten sich wie ein linderndes Pflaster auf ihre verwundete Seele. Ihr Zorn schmolz, und sie spürte, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen. »Ihr habt so viel für mich gewagt und tut es noch!«
»Ich hasse Ungerechtigkeit und einen Glauben, der lediglich auf stumpfen Gehorsam und das Nachplappern lateinischer Gebete besteht, die nur ein gelehrter Mann versteht, nicht aber das Volk, auf das es ankommt! Allerdings verachte ich auch Menschen, die glauben, vor allen anderen auserwählt zu sein, und die alle, die nicht ihre Überzeugung teilen, der Höllenpein anheimgeben wollen.«
Frauke begriff, dass seine Worte sowohl gegen das Vorgehen eines Jacobus von Gerwardsborn wie auch gegen das eines Jan Matthys und Jan Bockelson gerichtet
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