Flammen im Sand
ihr erhoben, sich ihr vor die FüÃe gelegt oder
war in Gestalt kleiner Kinder hinter ihr hergelaufen. Nun jedoch wartete die
Arbeit in einer Schneiderwerkstatt auf sie und würde etwas wert sein, was sich
mit einer Zahl ausdrücken lieÃ. Yvonne Perrette hatte ihr einen Stundenlohn
angeboten, den in Carlottas Dorf nicht einmal die Haushälterin des Pfarrers
bekam. Eine völlig neue, geradezu überwältigende Erfahrung!
Beim Frühstück endlich hatte sie Erik von der Neuigkeit berichten
können, die ihr schon so lange auf den Nägeln brannte, und er war tatsächlich
beeindruckt gewesen. Seine Sorge, dass sie ihn und die Kinder darüber vergessen
könnte, hatte sie gerührt. »No, Enrico! Ich kann kommen, wann ich will, und
immer nur, wenn ich Zeit habe. Das habe ich mit Signora Perrette so vereinbart.
La famiglia steht an erster Stelle! Naturalmente!«
Selbstverständlich hatte sie zunächst das Frühstücksgeschirr
weggeräumt, Felix pünktlich in die Schule geschickt und das Tomatenpüree für
das Ravioli-Gratin gekocht, das es mittags geben sollte, ehe sie ins
Modeatelier aufgebrochen war, wo Carolin schon seit zwei Stunden an ihrer
Karriere als Modeschöpferin arbeitete.
Der Wind kam vom Meer, die Insel schien sich unter ihm zu ducken.
Die groÃen Heideflächen zwischen der NorderstraÃe und den Dünen schienen vom
Wind niedergedrückt zu werden, und sogar die Möwen flogen tiefer an diesem Tag.
Mamma Carlotta war froh, als sie den schnurgeraden Teil der NorderstraÃe hinter
sich gebracht hatte, wo es keinen Schutz vor dem Wind gab. Als sie in die
SteinmannstraÃe eingebogen war, richtete sie sich im Windschatten der Häuser
auf. Nun würde sie den beiden Mode-Schwestern zeigen, wie fix sie mit einem
ReiÃverschluss oder einem handgenähten Saum fertig wurde!
Schon von Weitem sah sie die Rollstuhlfahrerin, die gegen den Wind
anzukämpfen hatte. Mit der linken Hand drehte sie verzweifelt am Rad ihres
Rollstuhls, mit der rechten schien sie etwas abwehren zu wollen. Nein, sie
kämpfte nicht gegen den Wind, sie kämpfte ⦠gegen einen Mann! Mamma Carlotta
sprang erschrocken vom Rad. Der Blick auf den Mann war ihr durch einen
Lieferwagen versperrt worden, jetzt aber konnte sie beobachten, wie er nach dem
Rollstuhl griff und an ihm rüttelte.
Mamma Carlotta lieà das Fahrrad zu Boden fallen und rannte los.
Erleichtert stellte sie aus den Augenwinkeln fest, dass sie nicht die Einzige
war, die der Rollstuhlfahrerin zu Hilfe eilen wollte. Eine Frau im weiÃen
Kittel kam aus dem Eingang des Seniorenheims gelaufen und rief: »Herr Lürsen!
Sie sollen doch nicht immer weglaufen!«
»GroÃes Geheimnis«, sagte der alte Mann, der diesmal nicht in
Unterhosen auf die StraÃe gelaufen war, sondern immerhin eine Jogginghose trug
und dazu die klobigen karierten Hausschuhe. »GroÃes Geheimnis«, wiederholte er
ein ums andere Mal.
Mamma Carlotta beugte sich über die Rollstuhlfahrerin, während Herr
Lürsen ins Seniorenheim zurückgeführt wurde. »Soll ich Sie nach Hause bringen?«
»Danke, nicht nötig«, kam es zurück. »Wenn mich keine Verrückten
aufhalten, komme ich gut alleine klar.«
»Müssen Sie noch weit?«
Die Frau zeigte auf das gröÃte Haus in der SteinmannstraÃe, an dem
der Name seines Besitzers prangte. Wilko Tadsen â
Baustoffhandel und Baumarkt . »Da wohne ich.«
»Ich muss ins Nachbarhaus«, sagte Mamma Carlotta erfreut und
ergänzte voller Stolz: »Ich arbeite für das Modeatelier.«
»So, so!« Das war das Einzige, was sie zur Antwort bekam.
Energisch griff die Frau in die Räder ihres Rollstuhls und bewegte
ihn so zügig vorwärts, dass Mamma Carlotta Mühe hatte, ihr zu folgen. Als sie
ihr Fahrrad vom Boden aufgehoben und die Frau eingeholt hatte, war die schon an
der Einfahrt zum Parkplatz der Firma Tadsen angekommen. Dort drehte sie den
Rollstuhl mit einer schnellen Bewegung ihrer rechten Hand um und sah Mamma
Carlotta nun endlich ins Gesicht. »Herr Lürsen war mal mein Lehrer.
Schrecklich, was aus ihm geworden ist!«
»Davvero?«, rief Mamma Carlotta, die sich umgehend an dem neuen
Schicksal erwärmte.
»Aber bei mir ist ja auch nicht alles geblieben, wie es war.«
Mamma Carlotta war inzwischen aufgegangen, dass sie Marikke Tadsen
vor sich hatte, von der Frau Kemmertöns ihr
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