Flammen im Sand
während der Arbeit viel an Yvonne Perrette denken, damit
sie sich ihrer Freude nicht schämen musste, würde alles so machen, wie es in
ihrem Sinne gewesen wäre, würde beim Nähteausbügeln ihrer gedenken und auf jede
Frage, die von einer Kundin gestellt wurde, beteuern, dass Yvonne Perrette eine
reizende Person gewesen sei und ihr Tod alle sehr erschüttert habe. Und ganz
heimlich sagte sie sich, dass es nicht falsch war, sich in Geraldine Bertrands
Nähe aufzuhalten und sie genau zu beobachten. Einer Frau, der das Geschäft
wichtiger war als die tote Schwester, war alles zuzutrauen.
Sogar die Kinder waren dieser Ansicht gewesen, als sie durchgefroren
zu Hause angekommen waren und sich hungrig auf den Grünkohl stürzten, den Frau
Kemmertöns ins Haus getragen hatte.
»Die tut so, als wäre nichts gewesen?«, hatte Felix entgeistert
gefragt. »Dann ist sie die Mörderin.«
»Red kein Blech«, hatte Carolin ihn angefahren. »Wenn sie es gewesen
wäre, würde sie tiefe Trauer heucheln und das Geschäft garantiert geschlossen
lassen.«
Das leuchtete Felix zwar ein, aber die Diskussion, wie das Verhalten
von Geraldine Bertrand zu bewerten sei, nahm trotzdem kein Ende. Und Mamma
Carlotta war zufrieden, dass die beiden darüber vergaÃen, in welchem Zustand
ihnen die Nachbarin vor der Haustür begegnet war.
»Die war hackevoll«, hatte Felix gesagt.
Und Carolin hatte ergänzt: »Die hatte sogar unsere Namen vergessen.«
Mamma Carlotta hatte etwas von gesundheitlichen Problemen gemurmelt,
da sie der Meinung war, dass Kinder so wenig wie möglich von den
Ausschweifungen Erwachsener mitbekommen sollten, und dabei selber so langsam
wie möglich gesprochen, damit ihre Zunge sich nicht verhedderte. Sie war froh,
dass sie als Italienerin daran gewöhnt war, ein gutes Essen mit einem Grappa
abzuschlieÃen. Oder auch zwei. Hackevoll war sie so schnell nicht! Frau
Kemmertöns aber hatte einen Mann, der das Konsumieren von Alkohol für ein
männliches Privileg hielt und niemandem gestattete, am Schraubverschluss seiner
Schnapsflasche zu drehen. Hoffentlich beschwerte er sich nicht bei Erik, weil
seine Frau im Vollbesitz ihrer geistigen und körperlichen Kräfte das Haus Wolf
betreten hatte und schwankend und mit schwerer Zunge heimgekehrt war.
Wie mochte es der armen Frau Kemmertöns heute Morgen gehen? Mamma
Carlotta war froh über ihre eigene robuste Konstitution, der mit einem zweiten
Espresso auf die Beine geholfen werden konnte, ehe sie sich zum Bäcker
aufmachte. Der Rest ihrer leichten Kopfschmerzen würde bei der eisigen Kälte
sicherlich schnell vergehen.
Sie warf sich ihre Jacke über und überlegte kurz. Handschuhe, Mütze,
Schal? »Madonna! Wie lange das dauert!« Für den kurzen Weg zum Bäcker
Vorbereitung treffen wie für eine Expedition zum Polarkreis? »Das geht auch ohne!«
Der Wind riss ihr die Tür aus der Hand und warf sie donnernd hinter
ihr ins Schloss. Oder war das schon der Sturm, von dem in der Zeitung die Rede
war? Bereits nach wenigen Minuten bereute sie, auf Handschuhe, Mütze und Schal
verzichtet zu haben. Mit eisigen Spitzen fuhr ihr der Wind ins Gesicht und in
die Ohren, im Nu waren ihre Finger steif gefroren, die Kälte auf ihrer Kopfhaut
tat weh. Schnell zog sie sich die Kapuze über, band sie unter dem Kinn zu,
damit auch die Ohren geschützt waren, und steckte die Hände tief in die Taschen
ihrer Jacke. Dann machte sie es wie die Sylter, die ihr entgegenkamen, blickte
zu Boden und bewegte sich so schnell wie möglich, um ihren Körper warm zu
halten.
Herr Arfsten steckte gerade den Kopf aus der Backstube in den Laden,
als Mamma Carlotta eintrat. Erleichtert zog sie ihre Hände aus den Taschen und
die Kapuze vom Kopf. Wie herrlich, wie unsagbar wohltuend war es, in diese
duftende Wärme zu kommen! Dass sich vor ihr eine lange Reihe von Kunden vor der
Theke aufgestellt hatte, machte ihr nichts aus. So konnte sie länger diesen
Zustand genieÃen, in dem die Wärme die Hände kribbeln lieà und das Gesicht zu
brennen begann.
Herr Arfsten winkte Mamma Carlotta aufgeregt zu einem der Stehtische
und kümmerte sich nicht um die missbilligenden Blicke seiner Verkäuferin, die
anscheinend um den rechtzeitigen Nachschub der Brötchen fürchtete. Nervös zog
er seine Hose in die Höhe und versicherte Mama Carlotta, er werde in
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