Flammen über Arcadion
Männer Wache schoben, aber sie war zu müde dafür. Dankbar lächelte sie Jonan an und bevor sie sich versah, war sie, ungeachtet aller Widrigkeiten, eingeschlafen.
Doch der Schlaf hielt wenig Erholung für sie bereit. Im Traum wurde sie von schwarz uniformierten, gesichtslosen Männern verfolgt, die sie durch das Gassenlabyrinth von Arcadion jagten. Wann immer sie glaubte, ihnen entkommen zu sein und sich schwer atmend an eine Hauswand lehnte, sprang aus irgendeinem Eingang ein neuer Häscher hervor und hetzte sie weiter. Schließlich führte die Jagd sie bis vor die Tore des Tribunalpalasts, in dessen Hof sie ein grausiges Bild erwartete: Ihre Eltern standen dort auf einer hölzernen Tribüne, umgeben von den in lange Roben gekleideten Richtern um Großinquisitor Aidalon. Um den Hals ihres Vaters und ihrer Mutter lag eine Schlinge, und über ihnen ragte der Galgenbaum auf. Ein seltsames dunkles Grollen, das aus der Tiefe der Erde zu kommen schien, legte sich bedrohlich über die Szenerie. Der Großinquisitor hob eine Hand, gab einen lautlosen Befehl, und als er sie wieder senkte, öffneten sich unter den Füßen von Caryas Eltern Klappen, und sie stürzten in die Tiefe.
Mit einem Ruck wachte Carya auf.
Sie blickte auf eine rissige Zimmerdecke und fragte sich einen Moment lang ängstlich, wo sie sich befand. Dann meldete sich ihr geplagter Rücken, und mit dem Schmerz kam die Erinnerung an ihre Flucht aus Arcadion.
Carya hatte keine Ahnung, wie lange sie geschlafen hatte. Offensichtlich war es mittlerweile Tag geworden, denn die Sonne schien durch die zersplitterten Überreste der Fensterscheiben. Neben dem Fenster sah Carya Jonan und Pitlit hocken. Sie erweckten den Eindruck, als versteckten sie sich und beobachteten irgendetwas vor dem Haus.
Und dann fiel Carya auch das Geräusch auf. Es war das seltsame dunkle Grollen aus ihrem Traum. Es schien von draußen von der Straße zu kommen. Ein Adrenalinstoß jagte durch ihren Körper. »Was ist los?«, fragte sie alarmiert.
»Eine Motorradgang«, flüsterte Pitlit leise. »Sie darf uns nicht entdecken.«
Carya streifte die Decke ab, erhob sich auf Hände und Knie und kroch zu den beiden anderen hinüber.Vorsichtig hob sie den Kopf und warf einen verstohlenen Blick in die Tiefe. Sie spürte, wie sich ein ungutes Gefühl in ihrer Magengrube breitmachte.
Eine Gruppe von zehn Leuten hatte sich fünf Stockwerke unter ihnen und vielleicht fünfzig Meter zur Linken versammelt. Es handelte sich um eine bunt gemischte Truppe aus Männern und Frauen unterschiedlichen Alters, die ein Sammelsurium aus Lederkleidung anhatten und deren Haar lang und verfilzt war. Etwa die Hälfte von ihnen trug Revolver am Gürtel oder hatte sich Gewehre über den Rücken geschnallt. Keinem von ihnen wollte Carya allein im Dunkeln begegnen – und selbst bei Tage und in Begleitung von Jonan nicht unbedingt.
Die Gangmitglieder hockten auf sechs Motorrädern, deren dröhnende Motoren gemeinsam für das Grollen sorgten, das Carya bis in ihren Traum verfolgt hatte. Die Maschinen warenallesamt in schlechtem Zustand – schmutzig und verrostet – , aber schon allein der Umstand, dass hier draußen überhaupt jemand ein Motorrad besaß, erstaunte sie. Offensichtlich musste es auch im Ödland Leute geben, die den kostbaren Treibstoff beschaffen konnten. Ob es sich um Diebe handelte, die sich bei den Vorräten Arcadions bedienten, oder ob tatsächlich Händler den Treibstoff aus den Wüstenstaaten übers Meer brachten, vermochte sie nicht zu sagen.
»Was machen die da?«, fragte Jonan leise. Vier der Fahrer hatten ihre Motorräder abgestellt, während die beiden übrigen unruhige Kreise um die Gruppe zogen. »Warten die auf jemanden?«
»Sieht so aus«, sagte Pitlit. »Ich könnte ja mal näher schleichen, um zu hören, was die sprechen.«
»Bist du verrückt?«, entfuhr es Carya. »Das ist viel zu gefährlich.«
Der Straßenjunge verdrehte die Augen. »Ich weiß, wie man sowas macht. Außerdem droht mir keine Gefahr, selbst wenn die mich entdecken. Vielleicht kriege ich ein paar hinter die Ohren, weil ich gelauscht habe, aber warum sollten die ein Straßenkind wie mich töten? Ich besitze nichts, was die haben wollen. Im Gegensatz zu euch.« Er warf einen vielsagenden Blick auf Jonans Gewehr.
»Mach es, wenn du meinst, dass es nötig ist«, entschied Jonan. »Aber ich würde hier einfach warten, bis sie verschwunden sind. Was kümmert uns deren Geschäft?«
»Das weiß man nie«, sagte
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