Flammen über Arcadion
bisher.«
Carya glaubte zu sehen, wie Pitlit feixte.
»Reizend«, kommentierte Jonan. »Kommt. Es wird schneller hell, als uns lieb sein kann.«
Verstohlen überquerten sie den breiten, leeren Streifen, der den Wall von den Ausläufern der Ruinen trennte. Schutt knirschte unter ihren Schuhsohlen, und niedrige Büsche streiften an ihren Beinen vorbei. Der Himmel im Osten der Stadt ging von fahlem Grau in ein frühmorgendliches Orange über, das den Sonnenaufgang ankündigte. Am Boden war es allerdings noch immer so dunkel, dass sie aufpassen mussten, nicht gegen die steinernen Überreste früherer Mauern zu laufen.
Da sie es nicht wagen durften, Licht zu machen, das ihnen den Weg weisen würde, waren sie gezwungen, sich quälend langsam ihren Weg durch die Trümmer zu bahnen. Die ganze Zeit verspürte Carya, die mit weit aufgerissenen Augen in die Dunkelheit starrte und auf jedes verräterische Geräusch lauschte, ein Kribbeln im Nacken, so als ruhten die forschenden Blicke der Wachleute auf dem Aureuswall unmittelbar auf ihr. Doch kein Suchscheinwerfer flammte auf, der davon gezeugt hätte, dass man sie entdeckt hatte. Alles blieb still und ruhig.
Endlich sah Carya die schwarzen Silhouetten der ersten verlassenen Häuser vor sich aufragen. Es handelte sich um nicht mehr als dunkle Schemen vor einem nur unwesentlich helleren Hintergrund. »Vorsicht«, warnte Pitlit, der ihnen vorausging, leise. »Ab hier gibt es überall Hindernisse. Wir sollten echt Licht machen, sonst verletzen wir uns.«
»Können wir das wagen?«, fragte Carya. »Werden uns die Wachen nicht sehen?«
»Nicht, wenn wir eine schwache Lichtquelle benutzen«, sagte Jonan. »Wartet, ich habe das Richtige dafür.« Ein Rascheln ließ darauf schließen, dass er in seinem Beutel herumwühlte. Carya hörte einen schabenden Laut, dann ein Klicken. Im nächsten Moment glomm ein schwacher, roter Lichtschein auf.
»Ist das eine Taschenlampe?« Carya sah, wie Pitlit große Augen machte.
»Ja, und man kann das Licht mit einem Farbfilter dämpfen«, erwiderte Jonan. »In Mauernähe wäre mir selbst das zu gefährlich gewesen. Aber ich glaube nicht, dass auf diese Entfernung noch etwas zu bemerken ist. Hier.« Er hielt die Lampe dem Straßenjungen hin. »Nimm du sie und leuchte uns den Weg.«
»Wo wollen wir denn hin?«, fragte Pitlit, nachdem er mit sichtlicher Ehrfurcht das technische Spielzeug entgegengenommen hatte. Erst jetzt begriff Carya, dass er auf der Straße vermutlich selten die Annehmlichkeiten elektrischen Stroms hatte genießen dürfen. Viele Bewohner Arcadions, vor allem aus den ärmeren Schichten, waren nach wie vor von Gaslampen und Kerzen abhängig, um ihre Wohnungen zu beleuchten.
»Wir brauchen zuerst einen Schlafplatz – und wenn es nur für ein paar Stunden ist«, meinte Jonan. »Carya und ich müssen uns ausruhen, denn völlig übermüdet durch das Ödland zu stolpern dürfte fast noch gefährlicher sein, als wenn wir in Arcadion geblieben wären.«
»Hier in der Nähe der Stadt können wir fast überall bleiben«, sagte Pitlit. »Die Gebiete, in denen sich Banden herumtreiben, liegen tiefer im Trümmergürtel.«
»Wir sollten vielleicht trotzdem unser Lager nicht gerade in der ersten Hausreihe aufschlagen«, fand Jonan. »Wenn jemand das Klettertau am Wall findet, sucht man uns hier zuerst.«
»Na schön«, sagte Pitlit. »Dann kommt.«
Vorsichtig drangen sie tiefer in das Labyrinth aus zerstörten Häusern und verwahrlosten Straßenzügen ein. Carya glaubte sich zu erinnern, dass Onkel Giac ihr mal erzählt hatte, all das sei früher Teil einer riesigen Stadt gewesen, deren damaliges Zentrum das heutige Arcadion bildete. Mit dem Sternenfall, dem raschen Bau des Aureuswalls und dem Verschließen der Tore vor den Dunklen Jahren hatte sich die Stadt zweigeteilt: Arcadion, die Arche Gottes, in der die Menschen Zuflucht gesucht hatten, und das Ödland, das außerhalb der Mauern lag.
Während sie die vereinsamten Straßen entlangliefen, deren Belag im Laufe von mehreren Jahrzehnten von Grasbüscheln, struppigen Büschen und verkrüppelt aussehenden Bäumen aufgebrochen worden war, wurde es langsam heller. Mehr und mehr zogen sich die Schatten der Nacht zurück und enthüllten das Panorama der Zerstörung, das sie umgab: eingestürzte Häuserfronten und ausgebrannte Ruinen, deren Reste sich trostlos in den Himmel erhoben. Selbst die besser erhaltenen Gebäude wiesen zersprungene Fenster, abblätternde Farbe und rissige Fassaden
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