Flammen über Arcadion
Vielleicht handelt es sich dabei um ein Schloss, und ich besitze den Schlüssel , dachte sie.
Sie holte den Anhänger hervor und streifte die Kette über den Kopf. Dann hielt sie das seltsame Kleinod neben den Kasten. Kein Zweifel: Man konnte die Metallplakette dort hinein schieben. Ob sich die Kapsel dadurch allerdings öffnete oder am Ende selbst in die Luft sprengte, vermochte Carya nicht zu sagen. »Versuchen wir es«, murmelte sie.
Behutsam führte sie das Amulett in den Schlitz ein. Es klickte kurz, und einige Symbole sowie der Schlitz selbst leuchteten bläulich auf. Das Tastenfeld fing an zu blinken. Anscheinend erwartete die Kapsel eine Eingabe.
Vier, fünf, eins … Die Zahlen tauchten wie von selbst in ihrem Kopf auf. Carya hatte keine Ahnung, woher sie die Kombination wusste, aber sie war sicher, dass sie stimmte. Ohne zu zögern, gab sie die drei Ziffern ein.
Ein Rumpeln durchlief die Kapsel. Ein Zischen folgte. Danach begann die Luke langsam zur Seite zu schwenken. Ein warmes gelbes Licht drang aus dem Inneren der Kapsel.
»Tochter des Himmels!«, rief der Priester mit so lauter Stimme, dass Carya unwillkürlich zusammenschrak. Er ergriff sie am Arm und drehte sie zu den versammelten Mutanten um.
»Tochter des Himmels!«, wiederholten diese den Ausruf ihres religiösen Führers. Dabei warfen sie die Hände in die Höhe und sanken auf die Knie.
»Nein … Ich … Was macht ihr?«, stammelte Carya.
Ordun ließ sie los, faltete wie anbetend die Hände und verbeugte sich tief vor ihr. »Seid gegrüßt, Tochter des Himmels«, sagte er. »Die Sterne der Nacht fielen vom Himmel und brachten uns das große Leiden. Später fiel der Stern des Morgens vom Himmel, der uns Erlösung versprach. Doch die Tochter des Himmels wurde geraubt und in die Ferne entführt. Seitdem haben wir ihre Rückkehr erwartet – Eure Rückkehr,Tochter des Himmels.«
»Aber das ist ein Irrtum«, wandte Carya ein. »Ich bin keine … «
»Lasst mich durch!«, rief eine Jungenstimme. »Geht beiseite! Ich bin der Diener der Tochter des Himmels.« Pitlit drängte sich durch die knienden Mutanten, die nicht aufhören wollten, Lobpreisungen zu rufen, und eilte an Caryas Seite. Er bedeutete ihr mit einer Geste, sich zu ihm herunterzubeugen.
»Was willst du, Pitlit?«, fragte Carya leise.
»Bist du irre?«, zischte er ihr ins Ohr. »Sie halten dich für ihre Prophetin. Lass sie eine Weile in dem Glauben. Das sollte unsere Überlebenschancen deutlich steigern.«
»Aber ich kann niemand sein, der ich nicht bin«, widersprach Carya.
»Du weißt doch gar nicht, wer du bist!«, gab Pitlit zurück. »Vielleicht bist du die Tochter des Himmels. Dieses … dieses Ding hier ist jedenfalls fantastischer als alles, was ich jemals in Arcadion oder um die Stadt herum zu Gesicht bekommen habe.« Er deutete auf die Trümmer des Flugapparats. Die Kapsel neben ihnen gab ein pulsierendes Brummen von sich und leuchtete aus dem Inneren wie ein Kerzenbaum am heiligen Tag des Lichts.
»Sie erwarten, dass ich ihnen Erlösung bringe. Wie soll ich das machen?«
»Was weiß ich? Aber die werden nicht gleich ein Wunder erwarten. Lass dir ein wenig Zeit. Uns wird schon was einfallen.« Pitlit zog sich einen Schritt von Carya zurück und schenkte den Mutanten ein salbungsvolles Lächeln, so, als sei er das persönliche Sprachrohr der Gottheit, für die Carya gehalten wurde.
Unsicher faltete Carya die Hände vor dem Bauch. »Danke«, sagte sie, merkte, dass sie lauter sprechen musste, und hob widerwillig die Stimme. »Ich danke euch! Mein Herz ist voller Freude, dass mich mein Weg endlich hierhergeführt hat. Viel zu lange habe ich auf diesen Tag warten müssen.« Sie wandte sich an Ordun. »Aber die … äh … Anstrengungen der Reise haben mich müde und hungrig gemacht. Ich würde mich gerne mit meinen beiden Gefährten ausruhen.«
Der Priester verbeugte sich erneut. »Wie Ihr wünscht, Tochter des Himmels.«
Er wollte mit einer Geste einen jungen Mann herbeirufen, doch Doktor Nessuno kam diesem zuvor. »Ich bringe sie in mein Quartier, wenn du es gestattest, Ordun.«
»Natürlich«, bestätigte der Priester.
»Kommt, Tochter des Himmels«, sagte der Arzt.
Carya wollte der Aufforderung schon Folge leisten, aber etwas ließ sie zögern. Nachdenklich warf sie der offenen Kapsel einen Blick zu, bevor sie die Hand hob und das Amulett aus dem Schlitz hervorzog. Ein Knopf unweit des Kästchens begann zu blinken, und sie drückte ihn mit einer
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