Flammen über Arcadion
Jonan und Pitlit im Haus von Doktor Nessuno und seiner Frau, die sich erstaunlicherweise als kaum älter als Carya herausstellte. In Caryas Augen war der Altersunterschied zwischen den beiden ungewöhnlich groß, bis ihr klar wurde, dass ja die meisten der Frauen – und auch der Männer – im Dorf ziemlich jung waren.
Als sie den Arzt darauf ansprach, machte dieser ein bekümmertes Gesicht. »Viele Menschen hier werden nicht älter als dreißig Jahre. Die Strahlung, die Gifte und Erbschäden sind schuld daran. Wenn sie nicht schon mit Krankheiten geboren wurden, entwickeln sie im Laufe der Jahre welche. So fordert der Sternenfall nach all den Jahren noch seine Opfer.«
»Sie scheinen dagegen immun zu sein, obwohl Sie ebenfalls hier leben«, warf Carya ein. »Oder liegt es daran, dass Sie erst vor ein paar Jahren hierhergekommen sind und nicht hier geboren wurden?«
»Du missverstehst die Lage«, erwiderte Nessuno. »Diese Menschen wurden keineswegs alle hier geboren. Sie haben sich nur hier – und in Stämmen an anderen Orten – zusammengefunden, weil man in der Wildnis alleine nicht überleben kann. Ihre Eltern wohnen in Städten wie Arcadion und verleugnen, dass sie jemals ein Kind mit sechs Fingern oder einer geistigen Behinderung geboren haben.«
»Es handelt sich um Ausgesetzte?« Carya sah ihn fassungslos an.
Der Arzt nickte. »In den meisten Fällen ja. Einige sind auch von selbst den Menschensiedlungen entflohen, weil sie wussten, dass sie irgendwo hier draußen ihresgleichen finden würden. Andere sind tatsächlich Kinder dieses Stammes. Und ein paar wenige haben sich als Aussteiger zu uns gesellt. Diese Mutanten, wie sie genannt werden, sind, ganz im Gegensatz zu den Geschichten, die man sich über sie erzählt, keine blutrünstigen Barbaren. Sicher, in einigen brennt der Zorn auf die sogenannte Zivilisation. Oft ist er sehr berechtigt. Aber im Grunde sind sie friedfertige Menschen und offen im Umgang mit Leuten, die anders sind.« Er lächelte milde. »Was vermutlich daran liegt, dass hier jeder anders ist. Letzten Endes zählt nur, dass jeder bereit ist, seinen Teil dazu beizutragen, dass der Stamm überlebt.«
Es ist eine weitere Lüge , erkannte Carya später. Der Lux Dei stellte die Mutanten als Ungeheuer hin – wie sonst hätten sich all die grausigen Gerüchte über sie bis auf die Schulhöfe und in die Templerjugendgruppen verbreiten sollen? Aber in Wahrheit ging es den Ordensoberen nur darum, alles, was in ihren Augen gegen die Schöpfung Gottes verstieß und unrein war, auszumerzen. Das galt für Mutanten ebenso wie für Invitros, Ungläubige und alle anderen Arten von Abweichlern. Diese Erkenntnis erschütterte ihr bereits deutlich beschädigtes Bild des Ordens, der sich zum Retter aller braven Menschen aufgeschwungen hatte, noch mehr. In was für einer Welt habe ich nur gelebt? , fragte sie sich.
Am nächsten Tag bekam Carya von Ordun ein eigenes Haus zugewiesen. Eigentlich war ihr das unangenehm, denn sie konnte sich nicht vorstellen, dass das Gebäude vorher leer gestanden hatte. Irgendjemand hatte für sie sein Heim geräumt. Aber jeder Widerspruch von ihrer Seite wurde im Keim erstickt. »Die Tochter des Himmels soll nicht als Gast im Haus eines anderen wohnen müssen«, beschied der Priester und Stammesälteste.
Das Haus lag direkt am Dorfplatz neben dem Tempel, was Carya immerhin als praktisch erachtete, da es ihr die Möglichkeit gewährte, die Kapsel einer näheren Untersuchung zu unterziehen, ohne unter den Augen aller durch das Dorf marschieren zu müssen. Es gab einen großen Wohnbereich mit einer Küche sowie einer Abstellkammer im Erdgeschoss und vier weitere Zimmer samt Bad im ersten Stock. Das Dach war flach, und über eine Treppe konnte man hinaus auf eine Art Dachterrasse steigen. In Arcadion hätte man für ein derart geräumiges Domizil ein Vermögen bezahlt. Hier wurde es Carya und ihren Begleitern – schlicht, aber ordentlich eingerichtet – einfach überlassen.
Als sie aus dem ersten Stock zurück ins Erdgeschoss kamen, erwarteten sie dort zwei junge Frauen, sicher keinen Tag älter als Carya selbst.
»Das sind Suri und Tahela«, sagte Ordun. »Sie stehen Euch zu Diensten, Tochter des Himmels.«
»Dienerinnen?«, fragte Carya ungläubig. »Das ist sehr nett von Ihnen, aber ich brauche wirklich keine … « Sie hielt inne, als sie die Enttäuschung in den Gesichtern der jungen Frauen sah. Offenbar hatte man ihnen nicht befohlen, sich Carya zur Verfügung zu
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