Flammen über Arcadion
»Bitte … nicht.« Ein dumpfes, treibendes Donnern erfüllte ihre Ohren, ein Doppelschlag, wie der eines riesigen Herzens. War es ihr Herz, das sie hörte? Aber das Schlagen war viel zu schnell. Es war so heiß in dem Raum, so heiß, als stünde ein Becken voll brennender Holzscheite unter ihrer Pritsche. Carya spürte, wie sich salziger Schweiß auf ihrer Stirn bildete und ihr das Gesicht hinunterlief.
Zwei Punkt drei.
»Irgendetwas geschieht … geschieht … geschieht … « Die besorgt klingenden Worte geisterten durch einen Raum, der jeden Sinn verloren hatte. Carya wusste nicht mehr, ob sie lag oder stand oder kopfüber von der Decke hing. Ein Gefühl von Schwindel erfasste sie.
»Fünf neun vier vier vier vier vier vier … «
Noch mehr Schmerzen. Carya empfing sie fast mit Freude, denn sie brachten einen Teil der Wirklichkeit zurück, zogen die Splitter, die um sie herum trieben, etwas enger zusammen. Sie sah die beiden Ärzte, die Gesichter zu besorgten Fratzen verzogen. Das Weiß ihrer Kittel stand in krassem Gegensatz zu der Schwärze, die Loraldi umdampfte, den Teufel. Seine Uniform ist schwarz , erkannte Carya in einem absurden Moment der Klarheit. Schwärze schluckt alles Licht. Selbst das Licht Gottes. Wie kann er sich für dessen Diener halten?
Der Inquisitor beugte sich zu ihr herab. Seine Stimme klang wie das Zischen einer Schlange. »Wer bist du?«, flüsterte er ihr viel zu laut ins Ohr. Er hob seinen klauenbewehrten Finger und rammte ihn ihr in die Schläfe. Caryas Schrei begleitete sie in die Bewusstlosigkeit.
»Wird sie das aushalten?«, fragt eine Stimme.
»Natürlich. Alle anderen haben es auch geschafft«, antwortet eine zweite.
Weißes Licht erhellt den Raum, gefärbt von farbigem Blinken, rot und gelb und blau.
»Aber keiner von ihnen war so jung. Und diese Menge ist wirklich enorm.«
»Uns bleibt keine andere Wahl. Unser Auftrag war eindeutig.«
»Ja.« Ein Seufzen ist zu hören.
Ein Schatten schiebt sich vor das weiße Licht, die Gestalt eines Mannes. Carya kann sein Gesicht nicht erkennen. »Keine Angst, Kind. Es dauert nicht mehr lange.«
»Sie kann dich nicht hören. Sie ist bewusstlos.«
»Hoffen wir es.« Kühles Metall schmiegt sich an Caryas Schläfen und an mehrere Stellen ihres Kopfes. Das Licht wird schwächer. Ihr Blick wandert, und auf einmal schaut sie auf tiefe Schwärze, erfüllt von kaum wahrnehmbarem Glitzern. Und in der Mitte hängt eine riesige blaugrüne Kugel, über die sich weiße Schlieren ziehen. Sie sieht wunderschön aus.
Im nächsten Augenblick bricht eine Flut von Sinneseindrücken über sie herein. In rasender Geschwindigkeit jagen Bilder vor ihrem Auge vorbei, Millionen Töne vereinen sich zu einem gewaltigen Rauschen. Ein unfassbarer Druck lastet auf ihrem Schädel. Sie hat das Gefühl, als müsse er zerbersten. Schmerz erfüllt ihren ganzen Körper. Und Carya schreit.
»Abbrechen!«, ruft eine Stimme. »Hören Sie auf!«
»Was machen Sie da?«
Carya kannte die Stimme, aber sie konnte sie im Augenblick nicht richtig zuordnen.
»Ich befrage die Angeklagte Carya … Carya Diodato«, sagte Loraldi. Seine Worte hüpften durch den Raum und prallten von den Wänden ab. Seine Gestalt drehte sich dabei auf eigentümliche Weise.
Sie spürte ein Stechen an ihrem Oberarm, nicht mehr so schlimm, aber noch immer schmerzhaft, und das Kribbeln in ihrem Körper begann nachzulassen. Das Wirbeln der Farben und Formen wurde langsamer, als säße sie auf einem Kinderkarussell, dessen rasante Fahrt nun zu Ende war. Nochmal, Mama, nochmal! , bat eine Stimme in ihrem Kopf, die erschreckend nach Pitlit klang.
»Nicht um alles in der Welt«, murmelte sie, oder zumindest versuchte sie es. Wie ein Rinnsal aus Wasser flossen die Laute kaum verständlich zwischen ihren Lippen hervor. Ihr Hals fühlte sich feucht an, ob von Schweiß, Blut oder Speichel, vermochte sie nicht zu sagen. Ihre Kehle dagegen war trocken und schmerzte vom Schreien.
»Für mich sieht es so aus, als wollten Sie sie in eine sabbernde Irre verwandeln«, grollte der erste Sprecher. Aidalon! , zuckte es durch Caryas Kopf. Die volltönende Stimme gehörte dem Großinquisitor. »Ihnen ist bewusst, dass ich mit dieser Frau noch etwas vorhabe, oder, Loraldi? Sie soll als Exempel dafür dienen, welch verderbte Kräfte in unserer Stadt am Werke sind und wie der Lux Dei mit ihnen umgeht. Dabei kann ich keine Angeklagte gebrauchen, die aussieht, als hätten wir eine Mutantin aus der Wildnis
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