Flammen über Scarborough Street: Ein Inspektor-Pitt-Roman
eig’ntlich? Sag’n Se mir das wenigstens?«
»Es ist besser für Sie, wenn Sie das nicht wissen, Pricey. Sie würden nur schlecht träumen.« Tellman sah auf die Blätter und entfaltete sie vorsichtig. Das oberste enthielt die Aussage eines Zeugen, der bestätigte, ein junger Mann habe eine junge Frau vergewaltigt, weil er so betrunken und hochnäsig gewesen sei, dass er nicht glauben mochte, sie könne ihn zurückweisen, nachdem sie ein wenig mit ihm getändelt hatte.
Das zweite Blatt enthielt das Geständnis des jungen Mannes in Einzelheiten, die deutlich machten, dass es sich um das auf dem ersten Blatt berichtete Verbrechen handelte. Unterschrieben war es von Piers Denoon, und die Richtigkeit der Unterschrift hatte Roger Simbister bestätigt, Oberinspektor auf der Wache in der Cannon Street.
»Danke, Pricey«, sagte Tellman aufrichtig. »Ich sage Ihnen in Ihrem eigenen Interesse: Es ist besser, wenn Sie zu niemandem darüber sprechen, ganz gleich, ob Sie betrunken oder nüchtern sind.«
»Ich kann schweig’n, Mr Tellman.«
»Das empfiehlt sich auch, Pricey. Sie haben diese Blätter aus Hauptkommissar Wetrons Haus gestohlen. Vergessen Sie das nie, und denken Sie daran, was es Sie kosten würde, wenn er das erführe.«
»Großer Gott im Himmel! Wo ham Se mich da reingeritt’n, Mr Tellman?« Pricey war blass geworden.
»Zehn Pfund, Pricey, und meine Dankbarkeit. Jetzt gehen Sie und kümmern sich um Ihre Geschäfte. Sie haben die ganze letzte Nacht in Ihrem Bett gelegen und wissen von nichts.«
»Gott is mein Zeuge!«, bestätigte Pricey. »Nehm’ Se’s mir nich krumm, aber ich glaub, ich möcht Se nie wiederseh’n!«
Nach seiner Rückkehr vom Hause der Familie Denoon hatte Pitt unruhig und voll Sorge in der Küche auf Tellman gewartet. Als er nun das Dokument gelesen hatte, wurden ihm die Zusammenhänge mit einem Schlag klar.
»Piers Denoon also«, sagte er langsam. »Höchstwahrscheinlich hat Wetron die Gelder für die Anarchisten von ihm erpresst und verlangt, dass er ihm alle ihre Pläne berichtete. Da Magnus Landsborough nicht bereit war, Sprengstoffanschläge zu verüben, bei denen Menschenleben in Gefahr waren, hat Wetron Piers Denoon dazu veranlasst, ihn zu töten, damit ein anderer die Sache fortführte, jemand, der sich nicht gegen seine Pläne auflehnte. Danke, Tellman. Sie haben glänzende Arbeit geleistet.«
Tellman merkte, dass er errötete. Solches Lob hörte man aus Pitts Mund nicht oft. Trotz seines Bestrebens, stets bescheiden zu sein, sagte sich Tellman, dass er es verdient hatte. Er hatte bei dem Unternehmen eine Heidenangst ausgestanden, und der Gedanke daran, dass Wetron fast die ganze Nacht hindurch einem Phantom nachgejagt war und dabei Edward Denoon und dessen gesamten Haushalt grundlos aus dem Schlaf gerissen hatte, bereitete ihm nach wie vor Unbehagen. Möglicherweise würde er teuer dafür bezahlen müssen. Er hatte Pitt noch nicht berichtet, wie die Sache abgelaufen war. Vielleicht sollte er das tun, solange seine Freude darüber noch unvergällt war?
Pitt sah ihn lächeln. »Was freut Sie so?«, fragte er leise, doch verriet sein Blick, dass er es ahnte.
Schließlich beschrieb Tellman mit wenigen Worten den Ablauf der Unternehmung.
Pitt lachte, anfänglich ein wenig verkrampft und nervös, später aber, als Tellman, unter dessen Augen tiefe Ringe lagen, mit sparsamen Worten den Aufschrei des jungen Mädchens, die Wut der Köchin und die zittrige Unbeholfenheit des Butlers beschrieb, aus vollem Herzen. So hemmungslos gab er sich seinem Gelächter hin, dass keiner der beiden hörte, dass Gracie, die den Ofen ausräumen wollte, zur Küchentür hereingekommen war. Weil sie dabei Asche aufwirbeln musste, hatte sie ihre Haare hochgesteckt, eine Haube aufgesetzt und eine Schürze umgebunden.
Beide entschuldigten sich wie kleine Jungen, die man beim Naschen ertappt hat, für ihre Lautstärke und nahmen gehorsam am Tisch Platz, während sie Feuer im Herd machte und Teewasser aufsetzte.
Es war fast halb neun, als Tellman mit einem guten Frühstück im Magen aufbrach, um seinen Dienst anzutreten. Pitt überlegte, wie viel er Charlotte anvertrauen und was er als Nächstes unternehmen sollte. Über eins war er sich bereits klar geworden: Er musste das Beweismaterial unverzüglich zu Narraway bringen. Er wollte es keine Stunde länger als nötig in dem Hause haben, wo seine Frau und seine Kinder lebten. Anschließend würde er Vespasia aufsuchen. Es gab vieles, wonach er sie
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