Flammen über Scarborough Street: Ein Inspektor-Pitt-Roman
fragen musste, und manches davon würde sehr schmerzlich sein.
»Ausgezeichnet«, sagte Narraway mit tiefer Befriedigung, als er den Blick hob, nachdem er die Blätter gelesen hatte. Sein Gesicht war bleich. »Ein Meisterstreich. Allerdings dürfte Wetron jetzt gefährlicher sein denn je. Zum einen ist ihm vermutlich klar, dass hinter diesem Diebstahl nur Tellman stecken kann, und zum anderen findet er seine Blamage von gestern Nacht bestimmt nicht amüsant. Er wird das keinem von Ihnen beiden je verzeihen.«
»Das ist mir bewusst«, sagte Pitt. Er fürchtete jetzt um Charlottes Sicherheit, weil er annahm, dass ihr nun von Wetron Gefahr drohte. Noch mehr Angst hatte er um Tellman, der die
Ursache dafür gewesen war, dass sich Wetron im Hause Denoon zum Narren gemacht hatte. Dass Tellman zu allem Überfluss Zeuge dieser Niederlage geworden war, würde nur noch mehr Öl in die Flammen seines Zornes gießen. »Wir müssen ihn rasch unschädlich machen …« Er spürte den Drang dazu geradezu körperlich. »Können wir ihn nicht gleich heute festnehmen lassen?«
Auf Narraways Zügen spiegelten sich seine Empfindungen. »Ich werde einen meiner Männer zur Bewachung Ihres Hauses abstellen, und zwar vorsichtshalber bewaffnet. Zu Tellmans Schutz kann ich nichts unternehmen. Ich vermute, dass Piers Denoon derjenige war, der Magnus Landsborough erschossen hat.« Seine Lippen wurden schmal. »Der eigene Vetter. Ich frage mich, ob er ihn ohnehin gehasst hat oder ob man ihn dazu erpressen musste. Das Geständnis der Vergewaltigung zeigt zwar, dass zwischen Piers und Simbister sowie diesem und Wetron eine Beziehung besteht; trotzdem müssen wir erst einwandfrei nachweisen, dass die beiden in die Anschläge verwickelt sind, bevor wir jemanden festnehmen lassen können.«
»Das Material, das wir haben, reicht aus«, beharrte Pitt. »Es belastet Piers Denoon und die beiden. Die Sache ist völlig klar.« Das Bewusstsein, dass Tellman Gefahr drohte, bedrückte ihn. Mit Sicherheit würde Wetron Blut sehen wollen! Mittlerweile dürfte er das Fehlen der Papiere bemerkt haben, und sicherlich war ihm klar, dass Tellman dahintersteckte, auch wenn dieser den Diebstahl nicht selbst begangen hatte. »Simbister ist Eigner der Josephine , auf der wir das Dynamit gefunden haben. Grover arbeitet für ihn. Damit schließt sich der Kreis der Beweise.«
Narraway sah ihn müde und ungeduldig an. »Das ist eine gefährliche Sache, Pitt!«, sagte er mit Schärfe in der Stimme. »Waren Sie schon einmal auf Großwildjagd?«
»Natürlich nicht.«
Narraway lächelte säuerlich. »Auf bestimmte Tiere kann man nur einen einzigen Schuss abgeben, der absolut tödlich sein muss. Werden sie lediglich verwundet, greifen sie den Jäger an
und zerfleischen oder zertrampeln ihn, bevor sie verenden. So müssen Sie sich Wetron vorstellen.«
»Haben Sie denn schon einmal Großwild gejagt?«
Ihre Blicke trafen sich. »Nur das gefährlichste aller Geschöpfe – Menschen. Ich habe nichts gegen Tiere und empfinde nicht das Bedürfnis, mir ihre Köpfe an die Wände zu hängen.«
Das machte ihn Pitt sympathischer.
»Gewiss, Sir.«
Er machte einen kurzen Besuch bei Vespasia, gerade lang genug, um ihr die Vorfälle der Nacht zu berichten. Sie reagierte darauf mit einem Gemisch aus Lachen und Kummer. Vor allem aber war sie voll tiefer Unruhe und Besorgnis, dass noch weitere tragische Ereignisse bevorstanden. Zwar war er sicher, dass sie eine Vorstellung davon hatte, wie diese aussehen und wen sie betreffen würden, doch war sie nicht bereit, ihm etwas darüber zu sagen.
Von ihrem Haus begab er sich zur St.-Paul’s-Kathedrale, wo er um die Mittagszeit Voisey am Grabmal John Donnes traf. Dieser Abenteurer und bedeutende Geistliche, Jurist, Philosoph und Dichter hatte zur Zeit Königin Elisabeths und König Jakobs gelebt und war Dekan eben jener Kathedrale gewesen. Über ihn sagte Voisey ausnahmsweise nur wenig. Die Eile, mit der Pitt herbeikam, obwohl es erst zehn Minuten vor zwölf war, und ein Blick auf sein erschöpftes Gesicht nahmen ihm wohl alle Lust, mehr zu sagen als einen einleitenden Satz.
»Er hat mit elf Jahren angefangen, in Oxford zu studieren, wussten Sie das?«, sagte er knapp. »Sie sehen fürchterlich aus«, fügte er sogleich hinzu. »Waren Sie wieder am Ort des Bombenanschlags?«
»Nein«, sagte Pitt bewusst leise, um zu verhindern, dass ihn ein älteres Paar, das offenbar John Donne seine Ehrerbietung erweisen wollte, hören konnte. »Ich war
Weitere Kostenlose Bücher