Flammenbraut
Südosten.
»Seltsam, nicht wahr?«
Frank zündete sich eine Zigarette an. »Was?«
»Dieser Fall hat Cleveland für ein Dreivierteljahrhundert beschäftigt. Ich frage mich nur, was Grandpa wohl sagen würde, wenn er wüsste, dass auch wir jetzt daran arbeiten.«
Frank rauchte schweigend weiter und blickte auf die Bäume.
»Wir haben früher immer Die Unbestechlichen geschaut«, fuhr Theresa fort. »Als ich älter wurde und viel über wahre Kriminalfälle las, habe ich ihm von jedem erzählt, und die meisten kannte er bereits.«
»Und dann bin ich Cop geworden«, entgegnete Frank.
Seine Worte hingen schwer in der Luft, und plötzlich wurde ihr bewusst, was er versuchte ihr klarzumachen, vielleicht schon seit Jahren. Er war der einzige Junge inmitten einer Horde Mädchen gewesen. Er hatte Grandpas Erzählungen gelauscht und dieselbe berufliche Laufbahn eingeschlagen. Er hätte der Liebling ihres Großvaters sein sollen. Nicht sie.
Frank hatte genauso viel Zeit mit ihm verbracht wie Theresa, zumindest bevor ihr Vater starb. Danach war sie ständig mit ihm zusammen gewesen, oder besser gesagt, niemand war so viel bei Theresa gewesen wie ihr Großvater.
Es wäre ihr nie in den Sinn gekommen, dass Frank ihr das enge Verhältnis übel nahm, niemals, doch jetzt stand es ihr so deutlich vor Augen, dass sie sich schämte.
»Aber du hattest einen Vater«, war das Einzige, was sie herausbrachte.
Frank warf die Zigarette zu Boden und trat sie nachdrücklich aus. »Und was für einen.«
Auch wieder wahr.
»Frank …«
Er sah sie nicht an. »Los, lass uns reingehen. Du musst noch deine Geschenke auspacken, damit wir endlich zu der Observierung abhauen können. Ich habe dir ein paar Scott-Joplin- CD s gekauft; tut mir leid, jetzt ist es keine Überraschung mehr.«
»Aber, Frank …«
»Es ist eine ganze Box. Mach sie besser jetzt auf.« Die untergehende Sonne färbte sein Gesicht dunkelrot. »Wir müssen dann los.«
34
Montag, 27. Januar 1936
James und Walter mussten bis zum nächsten Tag warten, bis sie den Arzt erreichten. Leider hatten sie während der Ermittlungen in Sachen Irene Schaffer nicht seine Privatadresse erhalten, und er war auch nicht im Bürgerverzeichnis aufgeführt. Doch am Montag war das Gebäude 4950 Pullman voller Leben trotz der Kälte.
Odessa stritt nicht nur ab, Flo Polillos Dr. Manzella zu sein, sondern verneinte auch, einen Mann dieses Namens zu kennen. Ruhig fügte er eine weitere Flasche der spärlichen Sammlung auf den Regalen hinzu und rückte alle Gegenstände im gleichen Abstand zueinander zurecht. »Ich möchte ja nicht unhöflich sein, Gentlemen, aber gewöhnliche Prostituierte gehören nicht zu meinen Patienten.«
»Im Gegensatz zu ungewöhnlichen?«, fragte Walter.
»Sie war keine Prostituierte«, sagte James, auch wenn er wusste, dass das nicht ganz der Wahrheit entsprach. »Die meiste Zeit ging sie einer geregelten Arbeit nach.«
»Ich will ja nicht snobistisch wirken«, erwiderte Odessa, »aber Sie haben doch bei Ihrem letzten Besuch die Dame gesehen, die mein Büro verließ. Wenn eine von meinen Patientinnen arbeiten müsste, dann könnte sie sich meine Dienste gar nicht leisten. Eine Schande, wirklich, denn die untersten Klassen sind ja gerade die, die eine Ernährungsberatung am dringendsten bräuchten. Wenn wir eine Regierung hätten, die sich um all ihre Bürger gleichermaßen sorgen würde …«
»Sie kennen also keinen Dr. Manzella?«, unterbrach ihn James.
»Nein.« Nachdem er die Flaschen zu seiner Zufriedenheit zurechtgerückt hatte, drehte Odessa sich um. »Nie von ihm gehört.«
»Und Sie haben auch keine betäubten jungen Mädchen in Ihrem Schrank versteckt?«
Der Mann hatte doch tatsächlich die Stirn zu lachen. »Nein, Officer, habe ich nicht.«
»Macht es Ihnen was aus, wenn ich kurz nachsehe?«
»Jimmy …«, sagte Walter mit warnendem Unterton.
»Überhaupt nicht.« Odessa deutete mit einer eleganten Handbewegung auf die betreffende Tür. »Wenn Sie sich das allerdings zur Gewohnheit machen, werde ich Sie wegen Belästigung bei Ihren Vorgesetzten anzeigen.«
Das weckte Walters Unmut. »Machen Sie das nur, Mister. Unser Vorgesetzter hat eine Tochter in Irene Smith’ Alter.«
James machte sich angesichts Walters plötzlicher Unterstützung nicht die Mühe, den Nachnamen des Mädchens zu korrigieren. Er zog die Tür auf und betrat die kleine Kammer, während er gleichzeitig eine nackte Glühbirne einschaltete, die von der Decke hing. Er hatte
Weitere Kostenlose Bücher