Flammenbrut
Kate es geistesabwesend mit dem Finger anstieß, erwies es sich als der
ausgetrocknete Körper einer toten Motte.
Sie schnitt eine Grimasse und wischte ihn vom Tisch. Abrupt griff sie nach dem Brief und eilte ins Haus. Das Telefon stand
auf einem Sekretär in der Diele. Kate steuerte mit schnellen Schritten darauf zu und nahm den Hörer ab. Sie tippte energisch
die ersten drei Ziffern der in dem Brief angegebenen Nummer ein, bevor sie den Hörer wieder auf die Gabel knallte.
«Na, komm schon, nimm dich zusammen», murmelte sie. Sie wünschte, Lucy wäre da gewesen, damit sie mit ihr über die Sache reden
konnte; mit einem Mal verspürte sie einen maßlosen Zorn auf sich selbst.
|115| Wieder griff sie nach dem Hörer und wählte hastig die Nummer. Eine Zentnerlast lag auf ihrer Brust, während sie darauf wartete,
dass die Verbindung zustande kam. Als sie hörte, wie es am anderen Ende der Leitung zu läuten begann, wurde der Hörer in ihrer
Hand feucht.
«Hallo?»
Es war eine Männerstimme. Kate stellte fest, dass sie sich überhaupt nichts zurechtgelegt hatte, und geriet in Panik. Sie
warf einen schnellen Blick auf den Brief und suchte nach seinem Namen.
«Könnte ich bitte mit … mit Alex Turner sprechen?» Es entstand eine kurze Pause. «Ich bin Alex Turner.»
Kate schluckte. «Mein Name ist Kate Powell.» Zu spät fiel ihr ein, dass sie nicht die Absicht gehabt hatte, ihren Namen zu
nennen. «Sie haben auf meine Annonce geantwortet. Wegen eines … eines Spenders.» Sie schloss die Augen und krümmte sich innerlich.
«Oh … ja.»
«Ich dachte … das heißt, ich meine, wir sollten uns kennenlernen.»
Noch eine Pause. «Okay.»
Kate versuchte, sich von seinem Mangel an Begeisterung nicht entmutigen zu lassen. «Also … wann würde es Ihnen denn passen?»
«Jederzeit.»
Kate wünschte, sie hätte nie angerufen. «Nun … ähm, wie wär’s mit …» Sie hatte einen völligen Blackout. «Morgen, so gegen Mittag?», platzte es aus ihr heraus, und sofort bereute sie es.
Zu früh, zu früh!
Sie wünschte verzweifelt, dass er nein sagen würde.
«Ja, morgen passt mir gut.»
«Oh … okay. Ähm …» Ihr Gedächtnis war außerstande, |116| sich auf einen vernünftigen Treffpunkt zu besinnen. «… Kennen sie
Chando’s Brasserie
?»
Es war der erste Name, der ihr in den Sinn kam, und Kate zuckte zusammen. Das Restaurant war französisch, snobistisch und
teuer. Sie hatte es nie gemocht, aber sie hatte nicht den Mut, ihren Vorschlag zu widerrufen.
Sie hörte sein Zögern. «Nein. Tut mir leid.»
«Es liegt gleich hinter dem Soho Square», erklärte sie und gab ihm eine Wegbeschreibung. «Wäre ein Uhr okay?»
«Bestens.»
Sie wartete, aber mehr kam nicht. «Na gut. Dann sehen wir uns morgen.»
Kate wartete, bis er aufgelegt hatte, bevor sie selbst den Hörer auf die Gabel sinken ließ. Sie sah sich in dem leeren Raum
um. Das Bedürfnis zu reden, irgendjemandem davon zu erzählen, war wie ein unterdrückter Aufschrei. Aber sie war allein.
Sie rief das Restaurant an, um einen Tisch zu reservieren.
*
Segelschiff, das am 7. Nov. 1872 von New York nach Genua auslief und am 4. Dez. von einem anderen Schiff völlig intakt, aber ohne Rettungsboot verlassen im Atlantik aufgefunden wurde. Von der elfköpfigen
Besatzung fand sich nie eine Spur.
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|117| Kapitel 8
Die meisten Tische in
Chando’s Brasserie
waren besetzt. Überall plätscherten die Gespräche, und gelegentlich bahnte sich leises Gelächter seinen Weg an die Oberfläche.
Kellner kreisten um die Tische wie Wasserwirbel in einem Fluss; sie balancierten ihre Tabletts und schienen stets ihre Schreibblöcke
gezückt zu haben.
Als durch die offene Durchreiche der Küche ein lautes Zischen und das Knistern von Flammen drangen, zuckte Kate zusammen.
Abermals blickte sie auf ihre Armbanduhr. Es war fünf vor eins. Um Viertel vor war sie gekommen, aber sie hatte das Gefühl,
als warte sie schon ein ganzes Leben lang.
Die Eingangstür ging auf, und Kate versteifte sich. Ein Mann trat herein; er hatte dunkles, schwungvoll zurückgekämmtes Haar
und trug trotz der Hitze eine Fliege und eine karamellfarbene Weste. Er sprach mit dem Mädchen hinter dem Empfangstisch, das
einen Blick in ihr Buch warf, bevor sie antwortete. Der Mann sah sich herrisch im Raum um, und sein Blick verharrte auf Kate.
Gerade als sie ihn zaghaft anlächeln wollte, wandte er sich ab. Das
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