Flammenbucht
zurückgezogen. Hier fühlte er sich ungestört, war weder den neugierigen Blicken der Fürsten noch den Nachstellungen des Baumeisters Sardresh ausgesetzt. Letzterer hatte ihn in den vergangenen Tagen mehrfach aufgesucht, ihn überschüttet mit seltsamen Andeutungen und Verheißungen, die sich allesamt auf die geheimnisvollen Verliese unter Vara bezogen. Noch immer schien er nicht gewillt, Baniter jene verborgene Stadt zu zeigen, die er in der Tiefe wähnte; und allmählich bezweifelte der Fürst, daß der ›Schwärmer‹ ihm mehr enthüllen konnte als die Welten seiner rauschhaften Phantasie. So hatte er sich wieder den Schriften des Archivs zugewandt, die sich mit dem Umsturzversuch seines Großvaters beschäftigten. Tatsächlich hatte Baniter einen weiteren Mosaikstein entdeckt, der ihn der Lösung jenes Rätsels, das Norgon Geneder umgab, näherzubringen schien. Unter den Schriftstücken befand sich eine flammende Rede von Binhipar Nihirdi; der palidonische Fürst hatte sich nach der ›Feier von Vara‹ für die sofortige Hinrichtung des Verräters Norgon ausgesprochen; ja, mehr noch: er hatte dem Kaiser geraten, die ganze Familie Geneder in die Verbannung zu schicken. Torsunt hatte jedoch Gnade walten lassen; die Teilung Ganatas erschien eine ausreichende Bestrafung für die Angehörigen des Verräters. Binhipar hatte sich zähneknirschend gefügt - und hatte zum Ausgleich eine zusätzliche Demütigung der Familie Geneder gefordert. Nach der Teilung des Fürstenturms in ein verkleinertes Ganata und ein neues Gebiet namens Varona war die silberne Fürstenkette, das alte Erbe der Geneder, dem varonischen Fürsten Hamalov Lomis übergeben worden. So hatte Gadon Geneder, Baniters Vater und Nachfolger Norgons, eine neue Kette schmieden müssen, an der er die Fürstenplakette mit dem ganatischen Luchs tragen konnte.
Binhipars damaliges Ränkespiel ließ Baniter aufmerken. Er wußte vom Haß des palidonischen Fürsten auf seine Familie - doch warum hatte er Torsunt dazu gedrängt, den Genedern die Fürstenkette abzunehmen? Voller Neugier hatte Baniter das Archiv nach den Legenden durchforstet, die sich um die silbernen Ketten rankten, und war schließlich in dem mächtigen Folianten, der nun vor ihm auf dem Tisch lag, fündig geworden. Zehn dieser Ketten hatte es einst gegeben; geschmiedet vor über vierhundert Jahren, als die zehn Gründer den Südbund ins Leben gerufen hatten. Angeblich hatte ein berühmter Schmied und Tathril-Priester aus Vara sie erschaffen, der heilige Lysron, der damals über das Verlies der Schriften gebot. Er hatte die Ketten mit einem mächtigen Zauber versehen, um die ewige Verbundenheit der zehn Gründer zu erhalten. In den frühen Tagen des Südbundes, so wollte es die Legende, hatten die Gründer dank ihrer Ketten sämtliche Gedanken geteilt; sie hatten die Nähe ihrer Bundesbrüder gespürt, und wenn einer von ihnen in Gefahr geraten war, hatten die anderen ihm zur Hilfe eilen können. So hatte sich der Name ›Der Silberne Kreis‹ herausgebildet; denn nichts hatte jene zehn Männer mehr voneinander trennen können, und bis zu ihrem grausamen Tod waren sie miteinander vereint gewesen.
Davon kann heute keine Rede mehr sein,
dachte Baniter. Mit dem Tod der Gründer waren die Ketten an die Erben weitergereicht worden; und schon damals hatte es erste Unstimmigkeiten zwischen den Gründerfamilien gegeben. Zwar waren diese Konflikte bis zum Südkrieg nie zum Ausbruch gekommen; doch nach dem Sieg über die Königreiche hatte sich schnell gezeigt, daß die Ketten allein nicht die Einheit des Silbernen Kreises erzwingen konnten. Bei der Gründung Sithars hatten die zehn Familien erbitterte Auseinandersetzungen um die Verteilung des Landes geführt; schließlich waren neun Fürstentümer gegründet und ein Kaisergeschlecht ernannt worden. Zunächst hatte die Familie Aldra die Krone Sithars getragen; doch dann war es unter der Kaiserin Tira Aldra zu der Erhebung der Bathaquar-Sekte gekommen. Tira Aldra hatte die Sekte viele Jahre begünstigt, bis diese eines Tages ihre Gönnerin beseitigt und die Macht in Sithar an sich gerissen hatte. Auch wenn der Aufstand der Bathaquar rasch gescheitert war, hatte die Familie Aldra für ihre Verstrickung in den Umsturz bitter bezahlt. Sie war auf die ferne Insel Tula verbannt worden, und so war eine der zehn silbernen Ketten verloren gegangen.
Niemand weiß, was aus den Aldra geworden ist… verschollen, vergessen, und ihre Fürstenkette für immer
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