Flammende Versuchung
oder abzutragen, ohne dass er auch nur darum bitten musste.
Es war genau so wie schon seit vielen Jahren. Lange, friedliche, ununterbrochene Jahre, in denen er allein das nächtliche Fasten brach …
Calder setzte seine Tasse mit ein klein wenig zu viel Schwung ab und winkte Fortescue ab, fast bevor dieser sich überhaupt in Bewegung gesetzt hatte. Verdammt noch mal, er war jetzt ein verheirateter Mann! Er sollte nicht wieder für den Rest seines Lebens allein essen müssen!
Er starrte auf seinen Teller. Schinken und Rührei heute Morgen. Schinken und Rührei jeden Morgen. Schinken und Rührei mit zwanzig. Schinken und Rührei mit zehn.
Sein Vater, der vorherige Marquis, war ein energischer Mann gewesen – ein Mann der Tat, der viel bewirkte … und ein extremer Frühaufsteher.
»Kein Mann hat jemals etwas vollbracht, indem er seine Tage im Bett verbracht hat!« Und dann hatte der Marquis mit einem Finger in der Luft gewackelt. »Lass dein Blut früh in Wallung kommen, und der Rest der Welt wird sich an dich anpassen müssen.«
»Etwas vollbringen« – das war der Wahlspruch des alten Marquis gewesen. Calder hatte seine Tage damit verbracht, etwas zu vollbringen, seit er laufen konnte – er war überwacht und belehrt worden, und jeder Augenblick seines Lebens war verplant.
Niemand aß mit ihm. Mahlzeiten waren der Brennstoff, der es ihm ermöglichte, seine Zeit produktiv zu nutzen. Rafe war ebenfalls unter diese Regel gefallen, aber irgendwie hatte er es trotzdem immer geschafft, geradezu luxuriös lange im Bett zu bleiben. Er hatte das Kindermädchen oder die Köchin oder die Gouvernante becirct – bereits in diesem Alter schien ihm keine Frau widerstehen zu können -, und sein Frühstück wurde ihm ans Bett gebracht.
Calder hatte nie protestiert, auch hatte er seinem Vater nie erzählt, dass Rafe nicht zum Frühstück erschien. Er war Teil der Massenverschwörung, die Rafe eine Freiheit verschaffte, die er selbst nie kennenlernte.
Und die meiste Zeit hatte er Gefallen an dieser Ordnung gefunden. Er war so ein Junge gewesen – ernst und intelligent, das einzige Kind unter Erwachsenen; denn sein Vater war snobistisch genug, dass er, während er selbst mit einer Näherin aus dem Dorf das Bett teilte und einen zweiten Sohn zeugte, seinem legitimen Sohn niemals erlaubte, mit den Kindern der Dorfbewohner
zu spielen, nicht einmal mit den Söhnen des örtlichen Rechtsanwalts oder den vielen Kindern von Mr Bixby, seinem eigenen Verwalter.
Nein, für Calder sollte es nur die Gesellschaft der Hochwohlgeborenen sein, nur dass es keine hochwohlgeborenen Kinder in der näheren Umgebung gab und auch niemanden, der solche in die Gegend bringen wollte. Es gab keine Familie, deren Gast er in den Ferien sein konnte, denn niemand unter dem Landadel entsprach den hohen Ansprüchen seines Vaters. Es gab nur seine Gouvernante, seinen Lehrer, das Dienstmädchen, das sein Zimmer säuberte, und den Stallknecht, der sich um sein Pferd kümmerte.
Als Rafe kam, war er keinen derlei Beschränkungen unterworfen. Er durfte mit den Söhnen des Hufschmieds nackt im Fluss schwimmen und mit dem Bixby-Rudel auf die Bäume klettern. Anfangs lud er Calder ein mitzumachen, aber Calder war zu stolz und zu neidisch, um zuzugeben, dass er es nicht durfte, weshalb er die Nase rümpfte und so tat, als hätte er Besseres mit seiner Zeit anzufangen.
Rafe musste es aber gewusst haben, denn er brachte immer einen kleinen Schatz für ihn mit – ein Vogelnest mit einem blauen Ei, einen Stein, der vom Fluss so glatt wie Glas geschliffen worden war, eine Haarschleife, die er einem der Bixby-Mädchen abgeschwatzt hatte. Dazu erzählte er immer eine Geschichte, der Calder stets mit einem gelangweilten Gesichtsausdruck zuhörte, die er jedoch jeden Tag von früh an sehnlichst erwartete.
Natürlich war bei dem Ganzen auch ein gewisser Anteil
an Schadenfreude dabei. Bei Rafe war nichts so simpel. Seine Gaben waren teils Trophäen, teils Geschenke. Seine Geschichten unterhielten, waren aber auch Prahlerei und Hohn. Liebe und Neid waren untrennbar miteinander verbunden und durchdrangen jeden ihrer Gedanken und ihrer Taten. Sie waren Brüder, doch nicht gleichwertig. Ihre Verbundenheit ging nur so weit, wie es die verwirrenden Erbschaftsgesetze erlaubten. Er wusste, dass Rafe für ihn kämpfen würde. Aber er wusste auch, dass Rafe mit gleicher Vehemenz gegen ihn kämpfen würde. Die Mauer der Ungleichheit zwischen ihnen bedeutete, dass sie niemals
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