Flammende Versuchung
ihr etwas sehr Wichtiges über ihren Ehemann klar. Calder hatte den Glauben an alles verloren – an alles außer dem Mechanischen, dem, was er sehen und reparieren konnte, was ihn nie verlassen würde. Das hier – diese riesige, schnaufende, surrende, klappernde Fabrik – das war die wahre Heimat von Calder, dem Mann, nicht jedoch dem Marquis … aber vielleicht auch von dem schlauen Jungen in seinem Innern. Geborgen in ihren mechanischen Armen, war er glücklicher, als Deirdre ihn je erlebt hatte.
Sie schaute hinab auf den Boden der Fabrikhalle und erkannte für einen kurzen Moment die Harmonie der scheinbar zufälligen Bewegungen dort unten. Wie die albtraumhafte Fahrt mit einem riesigen Karussell hob und senkte sich der ganze Ort wie ein Tier, als würde es Garn und Energie ein- und fertig gewebten Stoff ausatmen. Dann blinzelte sie, und alles wurde wieder zu einem Durcheinander, das sie nicht begreifen konnte.
»Das ist sehr…« Es ging nicht anders, sie musste es sagen. »… effizient.«
In Brookhavens Wertesystem war das ein großes Kompliment. Er nickte zufrieden. »Danke.«
Das alles war sehr nett – wenigstens war sie an seiner Seite -, aber sie war nicht ohne Grund hierher gekommen. Sie kämpfte nicht nur für Meggie, sie kämpfte für
sich selbst. Wenn sein eigenes Kind schon nicht zu ihm durchdringen konnte, welche Chance hatte dann eine weniger-als-perfekte Ehefrau?
Im Wissen, dass ihre Worte den Waffenstillstand zwischen ihnen aufkündigen würden, hob sie das Kinn und gab sich einen gerissenen Ausdruck. »Dann ersetzen diese Maschinen also Menschen?«
Er blinzelte überrascht, legte seine Rolle als guter Lehrer jedoch noch nicht ab. »Ich nehme an, auf gewisse Weise schon. Ich brauche weniger Arbeitskräfte in meiner Fabrik, als wenn ich die Arbeit an Heimarbeiter geben würde.«
Weniger Arbeitskräfte – oder weniger Gefühle? Er beschäftigte sogar möglichst wenige Arbeiter, damit er möglichst wenig mit Menschen zu tun hatte. Sie beugte sich über das Geländer und gab vor, die Arbeiten zu betrachten. »Dann kauft Ihr sie also …«
»Ich lasse sie extra anfertigen.«
Fast schluchzte sie wegen der Zuneigung und des Eifers in seiner Stimme. »Ihr lasst sie also anfertigen und hierher bringen und …« Sie machte eine unbestimmte Handbewegung Richtung Decke. »… und dann stellt Ihr sie auf wie Zinnsoldaten, und sie spucken Stoff aus?«
»Hochwertigen Stoff.«
Natürlich, hochwertigen Stoff – wer wollte schon das nicht ganz Perfekte, das Fehlerhafte … das Menschliche? Sie richtete sich auf und schaute ihm in die Augen. »Was geschieht, wenn Ihr sie vernachlässigt?«
Ah, jetzt wurde er misstrauisch. »Was meint Ihr damit?«
Sie verschränkte die Arme. »Was geschieht, wenn Ihr sie draußen im Regen stehen lasst? Was geschieht, wenn Ihr sie niemals ölt? Oder diese Riemen überprüft?« Sie stieß ein bitteres Lachen aus. »Was geschieht mit ihnen, wenn Ihr sie in Brookhaven lasst und sie neun Jahre alt sind? Was geschieht, wenn Ihr sie in einem Haus einsperrt und ihnen die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben verweigert?«
Er blickte jetzt finster, aber sie fuhr lauter werdend fort. »Was geschieht, wenn Ihr euch tagelang weigert, mit ihnen zu sprechen oder auch nur ein verdammtes freundliches Wort an sie zu richten – und sie anfangen, sich die Schuld dafür zu geben, weil sie nie, nie, nie gut genug sein werden.«
»Das reicht!« Wie eine scharfe Klinge schnitt sein Befehl durch ihre Tirade. Er blickte sie finster an, mit Augen wie glühende Kohlen. »Ich habe nicht die geringste Ahnung, wovon Ihr da sprecht. Ich bin nicht so!«
»Oh! Ihr seid der sturste, arroganteste, unverbesserlichste …« Herr im Himmel, ihr fehlten die Worte, ihn zu beschreiben. Sie gab auf. »Arschloch!«
Mit wehenden Röcken wandte sie sich von ihm ab und rannte davon, flog die schmale Holztreppe hinunter, ohne einen Gedanken an einen möglichen Sturz zu verschwenden, bis eine starke Hand sich um ihren Ellenbogen legte und sie heftig an diesen eisenharten Brustkorb riss.
Sechsundzwanzigstes Kapitel
D u kleiner Dummkopf.« Calders Stimme drang rau in ihr Ohr. »Du wirst dich noch umbringen.«
Sie würde ihn nicht damit amüsieren, dass sie sich wehrte. »Lasst mich los«, stieß sie aus. Obschon sie mit einem Fuß noch immer in der Luft hing, würde sie sich nicht an ihn klammern.
»Wenn ich dich loslasse, ist das auf dieser Treppe dein sicherer Tod.« Seine Stimme war ein tiefes Knurren.
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