Flammendes Eis
dem Schwimmer, der an Land gekommen war und sich mit einem Handtuch abtrocknete. Als sie ihn begrüßten, lächelte der junge Mann. »Sind Sie die Amerikaner?«
Paul nickte und stellte sich und Gamay vor.
»Ich bin Juri Orlow«, sagte der Russe. »Sie kennen meinen Vater. Ich bin als Student an der Universität.« Er sprach Englisch mit amerikanischem Akzent.
Sie reichten sich die Hände. Juri war groß, schlaksig und etwa zwanzig Jahre alt. Sein dichtes strohblondes Haar hing ihm bis in die Stirn, und die dicke Hornbrille ließ seine großen blauen Augen nur umso größer erscheinen.
»Wir haben uns gefragt, ob es wohl möglich wäre, eine kleine Bootsfahrt zu unternehmen«, sagte Paul.
»Kein Problem«, sagte Juri mit fröhlichem Lächeln. »Erst recht nicht für Freunde meines Vaters.«
Er schob das Boot ein Stück ins Wasser und zog an der Leine des Anlassers. Der Motor stotterte auf, sprang aber nicht an.
»Manchmal muss man ihm gut zureden«, erklärte Juri, rieb die Hände aneinander, änderte die Einstellung des Treibstoffgemischs und versuchte es erneut. Diesmal erwachte der Außenborder spuckend und rasselnd zum Leben und lief schließlich rund. Die Trouts stiegen ein, Juri stieß sich vom Ufer ab, sprang an Bord und richtete den Bug hinaus aufs Meer.
15
Austins Augen benötigten ein paar Sekunden, um sich an das Halbdunkel zu gewöhnen. Der stechende Weihrauchduft rief in ihm die Erinnerung an eine alte byzantinische Klosterkapelle wach, die er einst auf einem Hügel in Mystra oberhalb der griechischen Stadt Sparta besucht hatte. Hier an den rau verputzten Wänden hingen kunstvoll gemalte Ikonen und goldverzierte Gaslaternen aus Messing, hinter deren bunten Gläsern kleine Lichter flackerten. Die gewölbte Decke war mit dicken Holzbalken verstärkt. Vor einem Altar am anderen Ende des Raums stand ein Stuhl mit hoher Rückenlehne.
Kurt und Joe gingen näher heran. In die dunkelrote Altardecke hatte man den goldenen Buchstaben
R
eingestickt.
Aus einem Räucherfass stiegen Weihrauchschwaden empor. In die Wand über dem Altar war eine Lampe eingelassen und beleuchtete mit gelbem Schimmer ein großes Schwarzweißfoto in einem verschnörkelten goldenen Rahmen.
Auf dem Bild waren sieben Personen zu sehen, zwei Erwachsene und fünf junge Leute, bei denen es sich um die Kinder des Paars zu handeln schien. Auf der linken Seite des Familienporträts stand ein bärtiger Mann mit militärischer Schirmmütze und paspelierter Ausgehuniform. Orden schmückten seine Brust.
Vor ihm stand ein schmaler und blasser kleiner Junge in einem Matrosenanzug, daneben drei halbwüchsige Mädchen und eine etwas jüngere Schwester. Sie hatten sich im Halbkreis um eine sitzende Frau mittleren Alters versammelt. Die Gesichter der Kinder wiesen die hohe Stirn des Vaters und die breiten Wangenknochen der Mutter auf. Im Vordergrund sah man ferner eine niedrige Säule, wie sie in Museen häufig für besondere Ausstellungsstücke reserviert war. Auf ihr ruhte eine prächtige Krone.
Sie war sehr massiv, überreich mit Rubinen, Diamanten und Smaragden verziert und eindeutig nicht dazu gedacht, lange getragen zu werden. Trotz der schwarzweißen Aufnahme schienen die Edelsteine vor innerem Feuer zu funkeln. Oben auf der Krone thronte ein zweiköpfiger Goldadler.
»Dieses kleine Schmuckstück dürfte eine Menge wert sein«, sagte Zavala. Er beugte sich vor und betrachtete die ernsten Gesichter. »Sie sehen so unglücklich aus.«
»Vielleicht hatten sie schon eine Vorahnung davon, welches Schicksal ihnen drohte«, sagte Austin. Er strich mit einer Hand über die bestickte Altardecke. »
R
wie Romanow.« Sein Blick wanderte durch die Kammer. »Das hier ist ein Schrein zum Gedenken an Zar Nikolaus II. und seine Familie. Der Junge auf dem Bild hätte diese Krone als Nächster getragen, wären er und die anderen nicht ermordet worden.«
Austin ließ sich auf den Stuhl vor dem Altar fallen. Als er sich zurücklehnte, erklang aus versteckten Lautsprechern plötzlich ein Chor tiefer Männerstimmen. Der religiöse Gesang erfüllte den ganzen Raum und hallte von den Wänden wider. Kurt sprang wie ein Kastenteufel von seinem Platz auf und riss den Revolver hoch. Die beklemmende Musik verstummte.
Zavala sah die erschrockene Miene seines Partners und musste sich ein Lachen verkneifen. »Wohl ein bisschen nervös, mein Freund.«
»Clever«, sagte Austin. Er drückte gegen die Rückenlehne des Stuhls, und der Gesang setzte wieder ein. Sobald er
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