Flammenkinder: Kriminalroman (German Edition)
vielleicht hat sie dort manchmal geschlafen.
Vickys Mutter, die ihr gesamtes erwachsenes Leben obdachlos gewesen ist, wohnte zeitweise in der U-Bahn, auf Bänken in verschiedenen Stationen, in Zügen und in verlassenen Nischen entlang der Gleise, tief in den Tunneln.
Irgendwie muss ihre Mutter an diesen Schlüssel gekommen sein, denkt Joona am Steuer. Das kann nicht so einfach gewesen sein. In ihrer Welt muss er eine echte Kostbarkeit gewesen sein.
Trotzdem schenkte sie ihn ihrer Tochter.
Und sie besorgte einen Schlüsselanhänger mit dem Namen Dennis, damit das Mädchen nicht vergaß, welcher Wagen wichtig war.
Vielleicht wusste sie, dass Vicky weglaufen würde.
Sie ist viele Male weggelaufen und hat es zwei Mal geschafft,relativ lange unterzutauchen. Beim ersten Mal war sie erst acht, blieb sieben Monate verschwunden und wurde mit ihrer Mutter Mitte Dezember stark unterkühlt in einer Parkgarage gefunden. Beim zweiten Mal war sie dreizehn, blieb elf Monate verschwunden und wurde in der Nähe der Konzertarena Globen wegen schweren Ladendiebstahls verhaftet.
Es ist durchaus möglich, sich mit anderen Werkzeugen Zugang zu den Fahrerkabinen der Waggons zu verschaffen. Ein gewöhnlicher Steckschlüssel in der richtigen Größe würde ausreichen.
Auch wenn es unwahrscheinlich ist, dass Vicky sich ohne ihren Schlüssel in dem Wagen aufhält, könnte es dort Spuren aus ihren Phasen als Ausreißerin geben, irgendetwas, was zu ihrem jetzigen Versteck führt.
Joona hat das Präsidium fast erreicht, als Anja anruft und ihm sagt, dass sie mit den Stockholmer Verkehrsbetrieben gesprochen hat:
»Es gibt einen Wagen namens Dennis, aber er ist stillgelegt worden … ein schwerer Schaden, hat der Mann gesagt.«
»Aber wo ist er?«
»Sie wussten es nicht genau«, antwortet sie. »Er könnte in einem Depot in Rissne stehen … aber wahrscheinlich wurde er auf dem Gelände der Werkstätten draußen in Johanneshov abgestellt.«
»Stell mich durch«, sagt Joona und wendet.
Die Reifen prallen gegen eine Bremsschwelle, er fährt über eine rote Ampel und biegt in die Fleminggatan ab.
103
JOONA FÄHRT IN RICHTUNG JOHANNESHOV südlich von Stockholm, als sich endlich ein Mann am Telefon meldet. Es klingt, als spräche er mit vollem Mund:
»U-Bahn-Betriebe, Werkstätten … hier spricht Kjelle.«
»Joona Linna, Polizei. Können Sie bestätigen, dass sich ein Wagen namens Dennis in Johanneshov befindet?«
»Dennis«, schmatzt der Mann. »Haben Sie die Wagennummer?«
»Nein, leider nicht.«
»Warten Sie, ich sehe mal im Computer nach.«
Joona hört den Mann vor sich hin murmeln und dann raschelnd an den Hörer zurückkehren:
»Es gibt einen Denniz mit Z am Ende …«
»Das spielt keine Rolle.«
»Okay«, sagt Kjelle und Joona hört ihn lautstark den großen Bissen herunterschlucken, den er im Mund hat. »Ich finde ihn nicht in der Kartei … Es ist ein ziemlich alter Wagen, ich weiß nicht, aber den Angaben zufolge, die ich hier finde, ist er in den letzten Jahren nicht in Betrieb gewesen.«
»Und wo ist er?«
»Das müsste hier eigentlich stehen, aber … Wir machen jetzt Folgendes, ich verbinde Sie mit Dick. Der weiß alles, was der Computer nicht weiß …«
Kjelles Stimme weicht einem elektronischen Rauschen. Dann meldet sich ein älterer Mann, und es hallt, als befände er sich in einer Kathedrale oder einem Raum aus Metall:
»Hier spricht der dynamische Dick.«
»Ich habe gerade mit Kjelle gesprochen«, erläutert Joona. »Er meint, dass ein Wagen namens Denniz bei Ihnen steht.«
»Wenn Kjelle sagt, dass der Wagen hier steht, dann ist das sicher auch so – aber wenn es um Leben und Tod und das Vaterland geht, kann ich gerne mal nachschauen.«
»Das tut es«, antwortet Joona gedämpft.
»Sitzen Sie im Auto?«, fragt Dick.
»Ja.«
»Doch nicht etwa auf dem Weg hierher?«
Joona hört im Telefon, dass der Mann eine Metalltreppe hinabsteigt. Ein großes, schweres Tor quietscht, und der Mann ist etwas außer Atem, als er sich wieder meldet.
»Ich bin jetzt unten im Tunnel – sind Sie noch da?«
»Ja.«
»Hier haben wir jedenfalls schon mal Mikaela und Maria. Denniz müsste hier auch irgendwo stehen.«
Joona hört den älteren Mann mit hallenden Schritten gehen, während er selbst so schnell wie möglich auf die Centralbron in der Stockholmer Innenstadt fährt. Er denkt an die Phasen in Vickys Leben, in denen sie ausgerissen ist. Irgendwo muss sie geschlafen haben, irgendwo muss sie sich
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