Flammenkinder: Kriminalroman (German Edition)
nicht wieder, begreift aber, wer er sein muss.
Flora bleibt vor dem Tisch stehen, und der Fußboden knarrt unter ihren Füßen.
Der Vater sieht sie als Erster.
Als der alte Mann sie entdeckt, überkommt ihn eigentümliche Ruhe. Er lässt sein Besteck sinken und richtet sich auf, als wollte er sie eingehend mustern.
Die Mutter folgt dem Blick des Vaters und blinzelt einige Male, als die Frau mittleren Alters mit dem glänzenden Gewehr aus der Dunkelheit tritt.
»Flora«, sagt die alte Frau und lässt ihr Messer fallen. »Bist du das, Flora?«
Sie steht mit dem Gewehr vor dem gedeckten Tisch und bekommt keine Antwort heraus, schluckt nur hart, sieht der Mutter flüchtig in die Augen und wendet sich dem Vater zu.
»Warum kommst du mit einer Waffe zu uns?«, fragt er.
»Du hast mich zu einer Lügnerin gemacht«, antwortet sie.
Der Vater lächelt kurz und freudlos. Die Falten in seinem Gesicht wirken verbittert.
»Wer lügt, wird in einen See aus Feuer geworfen«, sagt er müde.
Sie nickt und zögert einige Sekunden, ehe sie ihre Frage stellt:
»Wusstest du, dass es Daniel war, der Ylva getötet hat?«
Der Vater wischt sich mit der weißen Stoffserviette bedächtig den Mund ab.
»Wir sahen uns damals gezwungen, dich fortzuschicken, weil du so schrecklich gelogen hast«, sagt er. »Und jetzt kommst du zurück und lügst wieder.«
»Ich lüge nicht.«
»Du hast es damals zugegeben, Flora … du hast mir gegenüber zugegeben, dass du dir das Ganze nur ausgedacht hast«, sagt er leise.
»Ich war vier, und du hast mich angeschrien, meine Haare würden verbrennen, wenn ich nicht zugäbe, dass ich lüge, du hast mich angeschrien, dass mein Gesicht schmelzen und das Blut kochen würde … also habe ich gesagt, ich hätte gelogen, und dann habt ihr mich fortgeschickt.«
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FLORA BLINZELT IHREN BRUDER AN , der am Esszimmertisch im Gegenlicht sitzt. Es lässt sich nicht erkennen, ob er ihrem Blick begegnet, seine Augen sind wie gefrorene Brunnen.
»Geh jetzt«, sagt der Vater und isst weiter.
»Nicht ohne Daniel«, entgegnet sie und zeigt mit dem Gewehr auf ihn.
»Das war nicht seine Schuld«, sagt die Mutter schwach. »Ich war es, die …«
»Daniel ist ein guter Sohn«, unterbricht der Vater sie.
»Ich sage auch gar nichts anderes«, entgegnet die Mutter. »Aber er … Du erinnerst dich nicht, aber an dem Abend, bevor das alles passierte, saßen wir zusammen und sahen eine Theatervorstellung im Fernsehen. Es lief Strindbergs Fräulein Julie, sie verzehrt sich doch so fürchterlich nach diesem Knecht … und da habe ich gesagt, dass es besser wäre …«
»Was ist denn das für dummes Zeug«, unterbricht der Vater sie.
»Ich denke jeden Tag daran zurück«, fährt die alte Frau fort. »Es war meine Schuld, denn ich sagte, dass es für das Mädchen besser wäre zu sterben, als schwanger zu werden.«
»Jetzt hör aber auf.«
»Und als ich das sagte, da … da sah ich, dass der kleine Daniel gerade hereingekommen war und mich anstarrte«, erklärt sie mit Tränen in den Augen. »Aber ich habe doch über Strindbergs Stück gesprochen …«
Sie hebt mit heftig zitternden Händen ihre Serviette an.
»Nach der Sache mit Ylva … seit dem Unglück war eine ganze Woche vergangen, es war Abend, und ich wollte mit Daniel das Abendgebet sprechen … Da erzählte er mir, dass Ylva schwanger geworden war. Er war doch erst sechs und konnte es nicht verstehen.«
Flora sieht ihren Bruder an, der seine Brille auf der Nase hochschiebt und seine Mutter anstarrt. Es ist ihm nicht anzusehen, was in ihm vorgeht.
»Du wirst mich jetzt zur Polizei begleiten und die Wahrheit sagen«, erklärt Flora an Daniel gewandt und zielt mit dem Gewehr auf seinen Brustkorb.
»Wozu soll das gut sein?«, fragt die Mutter. »Es war ein Unglück.«
»Wir haben gespielt«, sagt Flora, ohne sie anzusehen. »Aber es war kein Unglück …«
»Er war nur ein Kind«, herrscht der Vater sie an.
»Das stimmt, aber jetzt hat er wieder getötet … er hat im Haus Birgitta zwei Menschen umgebracht. Das Mädchen war erst vierzehn und wurde mit den Händen vor dem Gesicht gefunden und …«
»Du lügst«, schreit der Vater und schlägt mit der Faust auf den Tisch.
»Ihr lügt«, sagt Flora leise.
Daniel steht auf. In seinem Gesicht regt sich etwas. Vielleicht ist es Grausamkeit, aber es sieht eher aus wie Ekel und Angst. Gemischte Gefühle. Ein Messer hat zwei Seiten, aber nur eine ist scharf.
Seine Mutter fleht und versucht,
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