Flammenkinder: Kriminalroman (German Edition)
damit haben wir wohl alle schon gerechnet.«
Joona mustert eine Detailfotografie von Haaren an der rechtenSeite des gezackten Rahmens der Windschutzscheibe und eine Vergrößerung, auf der drei Haare mit ausgerissenen Wurzeln zu sehen sind.
Der Wagen fuhr wahrscheinlich mit hoher Geschwindigkeit und wurde beim Aufprall auf das Wasser mit Wucht abgebremst. Alles deutet darauf hin, dass Vicky Bennet und Dante Abrahamsson durch die Reste der Windschutzscheibe hinausgeschleudert wurden.
Joona liest, dass man Glassplitter mit Blutspuren des Jungen gefunden hat. Die Motorhaube wurde eingedrückt und senkte sich unter die Wasseroberfläche.
Joona weiß, dass es keine andere Erklärung dafür gibt, wie Haare von Dantes Kopf dort gelandet sein sollen, als dass er aus seinem Sitz über das Handschuhfach, durch das Fenster und in den Fluss hinausgeschleudert worden ist. Da das Kraftwerk von Bergeforsen seine Überlauftore geöffnet hatte, war die Strömung sehr stark gewesen.
Joona überlegt, dass Vicky Bennets Wut verflogen gewesen sein muss, da sie den Jungen nicht getötet, sondern im Auto mitgenommen hat.
»Denken Sie, der Junge lebte noch, als sie ins Wasser gefahren sind?«, fragt Joona leise.
»Ja, vermutlich wurde er beim Aufprall gegen den Rahmen bewusstlos und ertrank … aber wir müssen warten, bis die Leichen am Damm hängen bleiben.«
Holger Jalmert hält eine Plastiktüte hoch, in der eine rote Wasserpistole liegt.
»Ich habe selbst einen kleinen Jungen …«
Jalmert verstummt und setzt sich auf den Bürostuhl.
»Ja«, sagt Joona und legt ihm seine gesunde Hand auf die Schulter.
»Wir müssen der Mutter mitteilen, dass wir die Suche einstellen und einfach abwarten werden«, erklärt der Kriminaltechniker.
In der kleinen Polizeiwache ist es ungewöhnlich still. Einige Streifenpolizisten stehen plaudernd am Kaffeeautomaten, eine Frau tippt langsam an ihrem Computer. Das graue Zwielicht draußen schafft eine düstere Atmosphäre, ein Licht, das an trostlose Schultage erinnert.
Als die Tür aufgeht und Pia Abrahamsson eintritt, verstummen auch die letzten Gespräche. Pia trägt eine Jeans und eine zugeknöpfte Jeansjacke, die über den Brüsten spannt. Ihre nussbraunen Haare, die unter der schwarzen Baskenmütze herausschauen, sind strähnig und ungewaschen.
Sie ist ungeschminkt, und ihre Augen sind ängstlich und müde.
Mirja Zlatnek steht hastig auf und zieht einen Stuhl heran.
»Ich möchte mich nicht setzen«, sagt Pia schwach.
Mirja öffnet einen Knopf am Kragen ihres Hemdes.
»Wir haben Sie gebeten vorbeizukommen, weil … es ist nämlich so, dass wir befürchten …«
Pia legt eine Hand auf den Stuhlrücken.
»Was ich zu sagen versuche«, fährt Mirja fort, »ist Folgendes …«
»Ja?«
»Niemand glaubt, dass die beiden noch leben.«
Pia reagiert kaum. Sie bricht nicht zusammen, sie nickt nur langsam und leckt sich die Lippen.
»Warum glauben Sie, dass die beiden nicht mehr leben?«, erkundigt sie sich mit leiser und eigentümlich ruhiger Stimme.
»Wir haben das Auto gefunden«, sagt Mirja. »Es ist von der Straße abgekommen und im Fluss gelandet. Der Wagen stand in vier Metern Tiefe, er war schwer beschädigt und …«
Ihre Stimme erstirbt.
»Ich möchte meinen Sohn sehen«, sagt Pia mit derselben unheimlichen Ruhe in der Stimme. »Wo ist seine Leiche?«
»Es ist … Wir haben die Leichen noch nicht gefunden, aber …Ich weiß, es ist schwer für Sie, aber wir haben beschlossen, die Suche mit Tauchern abzubrechen.«
»Aber …«
Pia Abrahamssons Hand fliegt zu ihrem Hals, will nach dem Silberkreuz unter den Kleidern greifen, hält aber über dem Herzen inne.
»Dante ist erst vier«, sagt sie in einem erstaunten Ton. »Er kann nicht schwimmen.«
»Nein«, erwidert Mirja.
»Aber er … er plantscht gerne im Wasser«, flüstert Pia.
Ihr Kinn beginnt leicht zu zittern. Unter ihrer Jeansjacke lugt der weiße Priesterkragen heraus. Mit langsamen Bewegungen setzt sie sich wie ein alter und gebrochener Mensch endlich auf den Stuhl.
61
ELIN FRANK DUSCHT nach dem Dampfbad und geht anschließend über den glänzenden Steinfußboden zu dem großen Spiegel vor dem Doppelwaschbecken, wo sie sich mit einem warmen Badehandtuch abtrocknet. Als sie den schwarzen Kimono anzieht, den sie im Jahr ihrer Scheidung von Jack geschenkt bekam, ist ihre Haut noch heiß und feucht.
Sie verlässt das Bad, geht durch die hellen Zimmer, über weiße Parkettböden und ins
Weitere Kostenlose Bücher