Flammenopfer
Fachleuten überlässt, dachte er, und setzte sich wieder hinaus in den warmen Abendwind.
Auf dem Balkon gegenüber wurden die Kohlen weiter heißgefönt; drinnen lief der Fernseher, draußen zappelten die Kinder auf ihren Stühlen; die Mutter sagte etwas, das nichts anderes sein konnte als die Ermahnung, nach dem Essen ins Bett zu gehen.
Das Telefon klingelte. Zugleich klingelte es an der Tür. Er ließ den Anrufbeantworter sein Werk verrichten und ging zur Tür.
» Herr Sternenberg, das ist … Oje, habe ich Sie geweckt?«
» Nein, nein, Frau Stark, ich habe auf dem Balkon gesessen.«
» Ich wollte Sie nur fragen, ob es Ihnen möglich wäre, Sprotte mal wieder zu nehmen?«
Hanna Stark liebte Tiere. Sie wohnte im Erdgeschoss und erbot sich gern, Katzen, Hunde oder Vögel in Pension zu nehmen. Kai Sternenberg hatte ihr großes Herz ausgenutzt, als er in die Dachgeschosswohnung gezogen war und es sich klarer als je zuvor abzeichnete, dass die Hundeeigentümerinnen Anja und Tatjana ihren tiermütterlichen Pflichten immer seltener nachkommen mochten.
Das Besitzverhältnis hatte sich inzwischen umgekehrt: Nun fragte Hanna Stark gelegentlich bei Sternenberg an, ob er ihr kurzzeitig den Hund abnehmen könnte.
Sprotte war einer jener Hunde, die gegen den Willen von Eltern gekauft wurden und die ihre Unterkunft dem treuherzigen und wehmütigen Blick von Kinderaugen verdankten, denen die Eltern nicht zu widerstehen verstanden. Vor allem dann nicht, wenn sie wegen einer Scheidung ein schlechtes Gewissen hatten.
Und wie in vielen Fällen war eingetreten, was zu erwarten war – die Kinder gingen fort, und das Tier blieb bei einem der beiden, die gegen die Anschaffung waren.
Nachdem Kai Sternenberg gegen den Namen Sprotte sein Veto eingelegt hatte, war es in der Frühphase familiärer Demokratie zu einem Eklat gekommen: Anja und Tatjana votierten plötzlich für den Namen Goebbels. Sternenberg fand das in einer stillen Minute zwar außerordentlich witzig, weil er sich vorstellte, Goebbels das Bellen zu verbieten, besann sich dann aber seiner Verantwortung und gönnte seinen Kindern den Triumph, so zu entscheiden, wie sie es gedeichselt hatten. Dann schon lieber Sprotte.
Sprotte war eine acht Jahre alte Hündin, eine Schäferhund-Promenadenmischung mit so viel Dobermann-Anteil, dass das Fell kurz und glatt war. Dazu schlapprige Ohren, mit denen sie auf keinem Wettbewerb die Zugangskontrolle hätte passieren dürfen.
Sprotte war ein Kinderhund, der alles mit sich machen ließ: Anja hatte ihn kostümieren und schminken können und Tatjana die gefährliche Zirkusnummer aufführen, bei der sie ihr Gesicht in den Rachen des Untieres hielt. Ein leises Knurren war der Gipfel tierischen Unmutes.
Wenn die Kinder sich stritten, streunte Sprotte zwischen ihnen umher, legte die Ohren an, ließ sich zwischen ihnen nieder und blinzelte sie mit traurigen Augen an. Überhaupt suchte der Hund den Mittelpunkt im Kreise seiner Lieben, was bei dem Streit der Eltern einen häufigen Platzwechsel erforderte.
Wenn eines der Kinder krank war, wich Sprotte keine Minute freiwillig von dessen Seite, rührte keinen Bissen an und sprang erst wieder auf, wenn es auch dem Kind gut ging.
Zu der Zeit, als Kai seine Töchter in der einen Minute als Schmusekatzen erlebte, in der nächsten als charmante junge Frauen und ebenso plötzlich als Furien, weinend, heulend, aggressiv, im wahrsten Sinn des Wortes untröstlich, als sie ihm unendlich leidtaten, und er wusste, dass er sie in ihren Kämpfen des Erwachsenwerdens immer seltener erreichen konnte, weil sie seine liebevolle Hand ebenso brauchten, wie sie sie ablehnen mussten, und weil sie ihn ebenso liebten, wie sie sich zu distanzieren hatten, da führte der Hund seine beiden Mädchen traumtänzerisch sicher durch die Abgründe der Pubertät.
Der Hund hatte nie Autorität. Da war nur Liebe. Liebe mit Tränen im Fell und kraulende Liebe und schwanzwedelnde Liebe.
Kai Sternenberg hatte kaum etwas so sehr gefürchtet wie den Tod dieses Hundes, bevor Anja und Tatjana die schwierigen Jahre überwunden hatten. Glücklicherweise waren sie davon verschont geblieben.
Nachdem die Töchter Sprotte nicht an ihre Studienorte mitnahmen – so viel Vernunft hatte er den beiden früher nicht zugetraut–, musste er für den Hund sorgen und fand das auch gerecht. Die entlastende Tierliebe der Hanna Stark war ihm allerdings willkommen.
Frau Stark hatte sich – nach ihren Maßstäben – aufwändig zurechtgemacht.
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