Flammenopfer
vorsichtig bei der Wortwahl. Es gibt ein paar Kollegen bei der Polizei, die sind mehr als überempfindlich.«
» Noch was?« Das Mädchen sah ihn an, aber seine Haare hatten sich wieder in ihrer Ruheposition über dem Gesicht eingependelt.
» Vielleicht bin ich auch ein bisschen empfindlich, wenn es um Gewaltaufrufe geht. Mir ist klar, dass ihr den Staat anprangern wollt. Aber Gewalt führt nicht zu mehr Gerechtigkeit.«
» Nur auf Gewalt wird noch gehört«, sagte das Mädchen kalt. » Keiner erinnert sich, dass es in Tschetschenien einen Krieg gegen Männer, Frauen und Kinder gibt. Erst wenn die Tschetschenen Geiseln nehmen, berichtet bei uns die Presse über ihr Schicksal. Stimmt das nicht? Wenn wir nichts machen, weiß niemand, dass es uns gibt, und niemand kapiert, mit welcher Gewalt uns der Staat und seine Nutznießer ausbeuten – das ist echte Gewalt!«
» Vielleicht hältst du endlich die Klappe«, kam es von hinten.
Sie machte eine Bewegung, die Sternenberg andeuten sollte, dass er zu gehen habe. » Die Polizei ist doch Gewalt schlechthin, oder? Dafür seid ihr da. Wie wollt ihr sonst gegen Verbrechen vorgehen?«
» Vielleicht diskutieren wir das später mal«, sagte Sternenberg und faltete das Papier zusammen.
Der Rothaarige war aufgestanden, um der Geste des Mädchens Nachdruck zu verleihen. Sie wollten nicht mehr. Hirschi war ebenfalls vom Balken geklettert und schien sich eine volle Flasche zu suchen.
» Ich danke euch«, sagte Sternenberg.
Das Mädchen sagte etwas, das er nicht verstand. Hirschi stand mit einer Flasche in der Hand hinter dem Mädchen und grinste unflätig. Er sah auf den Boden, in Richtung ihrer Füße. Dann holte er mit dem rechten Bein aus und trat ihr mit seinem schweren Springerstiefel und mit voller Wucht in eine der beiden nackten Kniekehlen.
Das Mädchen schrie auf und sackte zusammen. Sie griff sich ans Bein und schrie.
Sternenberg war herumgefahren, machte einen Sprung auf den Jungen zu und schlug ihm ins feixende Gesicht.
Der Junge torkelte und fiel. Flaschen kippten um und klirrten aneinander. Sternenberg versuchte reflexartig, den Jungen zu greifen, bevor er mit dem Kopf auf den Boden prallen konnte. In der Bewegung war ihm klar, dass er nicht hätte schlagen dürfen, aber es war zu spät.
Das Mädchen schrie noch immer vor Schmerz, und der Junge blutete aus der Nase. Alle waren vom Balken herunter und standen herum. Sternenberg beugte sich zu dem Mädchen, behielt aber den Jungen im Auge, der sich langsam aufrichtete und sich die Hand vors blutende Gesicht hielt.
12
Die Audienz bei Königin Beatrix war unvermeidlich. Dodorovic hatte eine hohe, sehr schmale Vase mit einer einzelnen weißen Lilie auf die gläserne Schreibtischplatte gestellt. Eine massive Schiffsglocke schmückte neuerdings die Wand hinter dem Schreibtisch. Welchen Bezug hat Beatrix zur Marine, fragte sich Sternenberg.
Sie kam herein, lächelte und gab ihm die Hand. » Danke, dass Sie vorbeigekommen sind.«
Er zuckte die Achseln. Was sonst hätte er tun sollen, wenn er von seiner Chefin gerufen wurde?
» Es gibt diesen Vorfall in der Oderstraße.«
» Ja. Oderberger.«
» Um es kurz zu machen, Herr Sternenberg«, sie drehte die Glasvase mit der Lilie und rümpfte kaum merklich die Nase, » also, um es kurz zu machen: Ich gehe davon aus, dass Sie einen triftigen Grund hatten, einen Minderjährigen, gegen den keinerlei Verfahren läuft, zu schlagen.«
» Ich hätte ihn auch nicht gern geschlagen, wenn es ein Verfahren gegen ihn gäbe.«
Sie wirkte missmutig. » Ganz gleich. Sie können sich verteidigen?«
» Ja, es gibt Gründe, natürlich. Er hat ein …«
» Gut. Mehr will ich nicht wissen. Es wird eine Untersuchung geben, und Sie werden den Fall erklären können, damit ist das dann erledigt. Mehr interessiert mich nicht. Es gibt anderes.«
Es war ihm unangenehm, dass von seiner Vorgesetzten keine Nachfrage kam. Immerhin hatte er einen Jungen blutig geschlagen, und er erwartete, dass man der Sache mit mehr Elan nachging.
» Herr Sternenberg, es gibt etwas, worüber ich Sie informieren möchte. Es steht möglicherweise in einem Zusammenhang mit Ihren Ermittlungen in der Oderberger Straße. Wir haben eine Frau festgenommen. Sie gehört offenbar zu der Gruppe, mit der Sie dort in dem Haus zu tun hatten.«
» Eine Frau? Wie alt?«
» Ungefähr zwanzig.«
» Das einzige Mädchen in der Gruppe war erheblich jünger.«
Sie drehte die Lilie von sich weg. » Das kann schon sein. Die
Weitere Kostenlose Bücher