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Flammenopfer

Flammenopfer

Titel: Flammenopfer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joerg Liemann
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Medizin aufgenommen hatte. Es war das Häuschen seiner Eltern. Auf der Autobahn nach Jugoslawien, noch in Norditalien, hatte sich ihr Wagen überschlagen. Die Mutter war auf der Stelle tot, das Herz des Vaters versagte im Krankenhaus, ehe Rolf bei ihm angekommen war. Ob das der Grund dafür war, dass er sich zum Arzt hatte ausbilden lassen, darüber wollte er nicht reden. Aber sicher war es ein Auslöser gewesen, in den bewegten Endsechzigerjahren von Berlin – bei aller hellen Sympathie für das linke Fahnenschwenken und bei seinem enormen Engagement für eine Studentenzeitschrift – das Studium und die Praktika in Rekordzeit zu absolvieren.
    Den Überblick über den Wechsel der Krankenhäuser, in denen Rolf arbeitete, hatte Sternenberg so schnell verloren wie das Verständnis für die Fachgebiete, auf die sein Freund sich nach und nach spezialisierte. Gelegentlich fragte er ihn nach seiner Meinung, wenn ein Bericht aus der Pathologie zu lange auf sich warten ließ oder ihm ein Ergebnis unglaubwürdig schien. Es war eine beruhigende Selbsttäuschung zu glauben, Rolf Korbmann wüsste alles über die Medizin und speziell über die Forensik. Sie war definitiv niemals Korbmanns Fachgebiet gewesen. Die meisten Menschen glauben, die mit ihnen befreundeten Ärzte oder Anwälte seien in ihrem Job allen anderen Vertretern des Genres überlegen.
    Rolf lebte sparsam und unverheiratet und hatte sich den Berufsausstieg zum fünfzigsten Geburtstag geschenkt. Nebenbei ließ er sich für kurze Auslandseinsätze bei Ärzte ohne Grenzen oder anderen Organisationen verpflichten oder half gegen gutes Geld in einer Spandauer Arztpraxis aus.
    Den um ein Dutzend Jahre älteren Freund hatte Sternenberg in einem Plattenladen kennengelernt. Sternenberg suchte damals eine Aufnahme aus den Pearl Sessions. In einer Pause, in der das Band mitlief, hatte Janis Joplin eine Woche vor ihrem Tod für John Lennon » Happy Birthday« gesungen. Rolf Korbmann hasste Janis Joplin und machte das wiederholt in Flüchen und langen Argumentationsketten geltend. Jahrzehnte später schenkte er Kai ein Bild, auf dem die Texanerin mit Pelzmütze an einem dieser hüfthohen Papierkörbe aus Draht vor dem Chelsea Hotel lehnt, ein Bild, das er in Öl gemalt hatte, die Umgebung in Grautönen, nur das Mädchen und den Chelsea-Baldachin in schrägem Pastell. Sternenberg vermutete, dass Rolfs Abscheu gegen die Joplin mittlerweile aufgesetzt war und dass er heimlich ihre Musik hörte. Wunder der Freundschaft.
    Rolf war zu Hause. Er öffnete die Tür, wunderte sich kaum und deutete eine Verbeugung an.
    » Ich habe ein Brot im Ofen. Geh schon mal ins Zimmer.«
    » Ich wusste nicht, ob du da bist«, begann Sternenberg seinen Satz und erkannte dessen Sinnlosigkeit.
    » Setz dich. Nimm dir was.«
    Sternenberg ging ins Wohnzimmer. Ein Ventilator stand unter dem Fenster, und die Papiere an den Wänden – Fotos, Landkarten, Skizzen und Notizzettel – wanden sich jedes Mal, wenn der künstliche Luftzug zu ihnen schwoll. In der Mitte des Zimmers lag ein Teppich; quadratisch, bunt und schwer machte er den Raum noch niedriger, als er war. Die Aufforderung, sich etwas zu nehmen, bezog sich auf Musik. Eine Tradition zwischen ihnen, die Sternenberg erst wieder einzufallen schien, wenn sie sich trafen – was selten genug vorkam. Sie überließen sich gegenseitig ihre Plattensammlung, nicht ohne die Hoffnung, dem anderen werde auffallen, welche neuen Schätze hinzugekommen waren. Meist endete die Szene in einer ritualisierten Beschimpfung über den abartigen Musikgeschmack des anderen.
    » Was ist das denn?«, fragte Sternenberg, aber Korbmann hörte ihn nicht. Neben der Stereoanlage, die hinter einem Geflecht von Hängepflanzen verborgen war, stand eine Staffelei. Auf einem Seitentisch lehnte an einem Topf Ficus Benjamini eine CD: Emma Kirkby singt Henry Purcell. Sternenberg vermutete, dass es die Frau war, die er gerade singen hörte, und hatte kein Bedürfnis, die Musik zu wechseln. Es war etwas zu melodisch für seine Ohren, eine Art Sprechgesang, so wie er sich das Singen im alten England vorstellte. Verstreut auf dem Teppich lagen Ölfarbentuben – kaum eine verschlossen.
    Auf der Staffelei lehnte ein Stück Pappe, auf der mit Bleistiftstrichen eine Fläche markiert war, circa zwölf mal zwölf Zentimeter. Darin hatte Korbmann das Portrait Emma Kirkbys gemalt, mit viel Rot. Der Rest war grüne Grundierung, abgesehen von senkrechten Strichen, aus denen sich offenbar ein

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