Flammenpferd
Vorbesitzer hätte sie nur informiert, weil deswegen der Transport verschoben werden musste. Nun redeten alle durcheinander und ließen der Empörung freien Lauf. Das aufgeregte Stimmengewirr war noch zu hören, als Hella den Tierarzt hinaus begleitete, um endlich nach Melody zu sehen. Sie nahm sich vor, noch am Abend bei Uschi in Portugal anzurufen. Über diesen mysteriösen Vorfall musste sie unbedingt mehr erfahren.
15
Eisig umfing sie die Nachtluft, und prickelnder Sprühregen benetzte Gesicht und Handrücken. Die Stadt lag still und verschlafen, und die Schaufenster der kleinen Läden waren in der schummrigen Gasse kaum zu sehen. Sie hatte jedes Zeitgefühl verloren. Irgendwann nach Mitternacht, so schätzte sie. Mit steifen Fingern kramte sie die dünne Regenjacke aus dem Rucksack und zog sie über das Sweatshirt, um wenigstens die Nässe abzuhalten. Die Rücklichter des Mercedes waren längst hinter der Straßenecke verschwunden. Das Glück war auf ihrer Seite gewesen, als sie nach einer Tage langen Reise voller Umwege auf irgendeiner verlassenen Autobahnraststätte tatsächlich einen Autofahrer aus Hameln antraf, der auch noch so nett war, ihr das Märchen von der gestohlenen Geldbörse abzunehmen. Vielleicht hätte er sogar den Reinckehof gekannt und sie direkt dorthin gebracht, aber sie musste vorsichtig sein und hatte sich am Rand der Altstadt absetzen lassen. Dort stand sie nun; zum Umfallen müde und mit einem Bärenhunger. Die halbe Packung Schokoladenkekse, die der Fahrer ihr überlassen hatte, war zu nichts Besserem gut gewesen, als den Hunger anzustacheln. Sie hob den Rucksack auf und schwang ihn auf den Rücken. Mit dem Lauftrikot, drei Shirts und ihrem Trainingskalender, der Stoppuhr und einigen Kleinigkeiten steckten ihre gesamten Habseligkeiten darin, wenn man von den Jeans, dem Sweatshirt, den Laufschuhen sowie der Regenjacke absah, die sie am Körper trug. Die Asics-Schuhe waren ihr kostbarster Besitz, sie hatte sie immer geschont. Nun war ihr nichts anders übrig geblieben, als die Schuhe anzuziehen, wollte sie im nasskalten deutschen Frühling nicht barfuß laufen. Ansonsten besaß sie noch eine Hand voll Centmünzen und den deutschen Personalausweis ihrer geliebten Freundin Jana, der gelungen war, wobei sie selbst so kläglich versagt hatte.
Es war Benni gewesen, der sie aus dem lichterloh brennenden Schuppen gezogen hatte. Sie hatte ihm das Versprechen abgetrotzt, sie nicht zu verraten, und sich davon gemacht, als Melia kreischend aus dem Haus gestürzt kam. So schnell sie konnte, war sie zum Wohnheim gelaufen und ins Haus geschlichen, um dort in aller Hast ihre Sachen zu packen. Benni wartete an ihrem Treffpunkt unter den Korkeichen und hatte alles dabei, was er auf dem Schreibtisch der Eltern zusammenraffen konnte; darunter den Kaufvertrag und die Adresse des Stalls in Deutschland. Dazu ein paar Euroscheine. Sie gab ihm alles zurück bis auf das Geld und schrieb sich die Stalladresse auf den Unterarm.
„Du Dummkopf, nun muss ich es wieder tun“, sagte sie und blickte vorwurfsvoll in seine verständnislosen Kinderaugen. „Wieso hast du dich eingemischt, Benni?“
Um sie vor dem Feuer zu retten, schluchzte er. „Die Polizei wird dich schnappen und ins Gefängnis stecken!“
„Wenn du mich verrätst“, sagte sie drohend, „wenn du jemandem sagst, wohin ich will, dann komme ich zurück und zünde euren Hof an.“
„Das wirst du nicht tun“, sagte er ängstlich.
„Doch, ich werde es tun“, beteuerte sie. „Wenn alles schläft, überschütte ich Billi mit Benzin und stecke ihn an. Er wird jaulen und schreien vor Angst und vor Schmerzen, aber das wird ihm nichts helfen. Dann werfe ich einen Brandzünder in dein Zimmer und in das Zimmer deiner Eltern. Und danach in die Ställe. Das alles wird brennen wie die Hölle! Du wirst brennen wie die Hölle!“
Sie ging bis zu einer Straßenlaterne und fingerte in deren schwachem Lichtschein den Stadtplan aus der Hosentasche, den sie aus dem Mercedes hatte mitgehen lassen. Ungeduldig strich sie mit dem Zeigefinger über das Blatt, bis sie am östlichen Stadtrand die Straße entdeckte, in der der Reinckehof liegen musste. Vom Rand der Altstadt aus mochten es drei oder vier Kilometer sein. Ein Kinderspiel für eine Läuferin. Sie zurrte den Rucksack fester und machte sich auf den Weg.
Im beständigen Trott joggte sie durch die düsteren Straßen. Die aufgeschürfte Haut, die Fadistas Huftritt hinterlassen hatte, spannte bei
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