Flammenpferd
jedem Schritt. Ab und zu blieb sie stehen und hielt das Feuerzeug über die Karte und überprüfte die Straßennamen, bis sie eine große Kreuzung erreichte und in die Deisterstraße hinein fand, die der Karte nach zur Bundesstraße in Richtung Hannover führte. Dort musste sie entlang und ein Stück aus der Stadt heraus, um das Hameltal zu erreichen, in dem der Reinckehof lag. Sie schob die Karte unter das Sweatshirt und lief ein wenig schneller. Die Beine waren widerspenstig vom endlosen Sitzen im Auto, und die Leere im Magen schien alle Kraft aus dem Körper zu saugen. Dazu gesellte sich ein brennender Durst. Nichts, wovon sich eine Läuferin aufhalten lassen würde. Sie hielt das gewählte Tempo ein und konzentrierte sich auf den Takt ihrer Schritte. Im Laufen streckte sie die Zunge heraus und angelte nach den Wassertropfen. Der Regen war stärker geworden, und hinter den Wasserschleiern verschwammen die Lichter der vorbei fahrenden Autos. Ein dunkler Volvo rauschte vorüber und spritzte ihr das Wasser aus der Gosse gegen die Beine, dann bremste er scharf ab, und ein Mann lehnte sich aus dem geöffneten Fenster und rief ihr etwas zu.
„Hau ab!“, schrie sie.
Sie schickte einen portugiesischen Fluch hinterher und ließ sich in ihrem Trott nicht stören. Die Muskeln fanden in die gewohnte Lockerheit hinein. Bald liefen die Beine wie von selbst, als würden sie von einem unermüdlichen Motor angetrieben, der außerhalb ihres Körpers lag; abgekoppelt von ihrem Gehirn und ihren Empfindungen. Sie zog, Schritt für Schritt voran kommend, an einer halbhohen Mauer vorbei, hinter der schemenhaft die Umrisse von Grabsteinen zu erkennen waren. Ein Stück weiter führte der Weg, wie die Karte versprochen hatte, unter einer Eisenbahnbrücke hindurch und beständig geradeaus, bis sie die Häuser hinter sich ließ und einen Radweg erreichte, der para-llel zur Straße stadtauswärts führte. Die Autos rollten schneller vorbei, und die Fahrer kümmerten sich nicht um das magere durchnässte Mädchen, das mit weiten Schritten die leichte Anhöhe hinauf trabte. Bald führte der Weg an einem klotzigen Bürogebäude vorbei, dessen große Etagen nur trüb beleuchtet waren, als dürfte es dort nicht dunkel werden. Danach ging es gemächlich bergab, und ihre Schritte wurden federleicht. Als sich der Radweg verzweigte, hielt sie sich rechts, hielt auf eine Häusergruppe zu und folgte weiter der Hauptstraße, bis sie an eine Kapelle gelangte und vor den Stufen zum Kirchhof innehielt. Ihr Atem ging ein wenig schneller, und sie ließ sich ein paar Atemzüge lang Zeit, bevor sie das Feuerzeug und die Karte hervor holte. Nun noch links in den schmalen Fußweg dort drüben und dann wieder rechts, und sie hätte die Straße erreicht, in der der Reinckehof liegen musste. Kurz darauf stand sie vor einer niedrigen Mauer, auf die ein mit dolchartigen Zacken gekrönter Eisenzaun aufgesetzt war. Die offene Einfahrt entdeckte sie wenige Schritte weiter.
Der Hof lag in schwärzlicher Finsternis, wenn man von zwei hell erleuchteten Fenstern absah, die auf der rechten Seite zu entdecken waren. Befand er sich dort, irgendwo hinter diesen geahnten Mauern, ihr Fadista? Ihr Herz begann zu klopfen, wie es sonst nicht nach einem Sprint schlug. Am liebsten wäre sie sofort in den Stall gestürmt, aber sie musste sich vor den Hunden in Acht nehmen. Auf einem solchen Hof gab es immer Hunde; im Zwinger, an der Kette oder frei laufend. Im Schutz der Mauer lauschte sie in die stumme Schwärze hinein.
Die Nässe kroch ihr die Beine hinauf, und als sie vor Kälte zu zittern begann, hielt sie das Warten nicht länger aus. Wachhunde hin oder her, sie musste Gewissheit haben. Tief gebückt und mit lautlosen Schritten schlich sie auf die hellen Fenster zu. Daneben lag eine steinerne Treppe; eine Wandlampe beleuchtete die ausgetretenen Stufen, die zur Haustür hoch führten. Der Regen prasselte ihr ins Gesicht, als sie den Kopf hob, um an der hohen Hauswand hinauf zu blicken, die sich im sternlosen Nachthimmel verlor. Das Licht brannte im Erdgeschoss, doch die Fenster lagen zu hoch, und sie konnte nicht hinein sehen. An der Wand lehnten einige zusammengeklappte Gartenstühle. Leise trug sie einen Stuhl unter ein Fenster, zog ihn auseinander und stieg hinauf. Wieder raste ihr Herz, und dieses Mal vor Aufregung. Sie musste wissen, ob sie am richtigen Ort war, und was sie zu sehen bekam, ließ sie die Anspannung auf einen Schlag verlieren. Ja, das war sie, die Frau mit
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