Flammenpferd
Parkplatz verschwunden war. Sie ging in den Flur hinaus. In der hinteren Ecke stand, seit Hella denken konnte, eine hohe Standuhr, das Erbstück einer unbekannten Tante. Wie oft hatte sie sich mit Nelli darum gestritten, wer die Uhr aufziehen durfte, und das viertelstündige Schlagen des Uhrwerks war so vertraut gewesen, dass man es nicht mehr wahrgenommen hatte. Als die Eltern gestorben waren, hatte Nelli sich nicht mehr um die Uhr gekümmert. Hella wollte die Uhr nicht aufziehen, um nicht an das denken zu müssen, was darin verborgen war.
Der Rahmen aus schwarzbraun gebeiztem Holz schrappte beim Öffnen. Widerstrebend griff Hella in den Uhrenkorpus hinein und zog einen blauen Schnellhefter heraus. Sie war erleichtert; auf den ersten Blick sah alles so aus wie vor einem halbem Jahr, als sie die Mappe zum letzten Mal in der Hand gehabt hatte. Unter dem Vorwand, die alte Uhr sei sehr empfindlich, hatte sie Ines gebeten, das Uhrwerk weder aufzuziehen, noch den Korpus abzustauben. Ein gutes Versteck, von Nelli ausgesucht. Thies hatte Tage gebraucht, um die Mappe zu finden. Nellis tödlicher Unfall lag einige Wochen zurück, als Thies – angestachelt von Philipp – Nacht für Nacht durch das Haus geschlichen war. Hella hatte seine Ruhelosigkeit auf seine Verzweiflung über Nellis plötzlichen Tod zurückgeführt, und als sie die Wahrheit erfuhr, war es für Thies zu spät gewesen.
Sie nahm den Umschlag und trug ihn hinauf ins Dachgeschoss. Der Fußboden im oberen Treppenhaus war bedeckt mit Bauplänen, deren aufgerollte Kanten Swantje mit dicken Kieselsteinen beschwert hatte. Weitere Pläne hingen an den Wänden. Sie waren mit breitem Malerkrepp auf die vergilbten Tapeten geklebt. So viel zu Swantjes Versprechen, die Wände unbehelligt zu lassen.
Hella betrat das Zimmer, in dem Thies seinem Leben ein grausames Ende gesetzt hatte. Nicht ohne Hellas Einflussnahme, und das war eine Schuld, an der sie schwer zu tragen hatte. Viel Schlimmes war geschehen in jenem vergangenen Sommer. Mit der naiven Hoffnung, in der Schwester eine Partnerin für die Reha-Klinik zu finden, war Hella an den Ort ihrer Kindheit zurückgekehrt. Am Tag darauf erstickte Nelli in der Güllegrube. Wenige Stunden zuvor war ein hoffnungsvolles junges Springpferd auf der Koppel gestorben, abgeschlachtet mit einem gekonnten Schnitt durch die Kehle, und kurz darauf verendeten zwei weitere Pferde in ihrem Blut; eins davon war Nellis junger Wallach Memory, den Hella inzwischen in ihre Obhut genommen hatte. Sie forschte nach und kam zu dem verhängnisvollen Schluss: Thies Braake, der erfolgreiche Springreiter, der durch einen Reitunfall zum Krüppel geworden war, er war der Pferdemörder. Sie hatte ihn an die Polizei verraten, und er wusste, er würde nicht länger schweigen können und seine Schuld offenbaren. Er trug die Verantwortung für den erbärmlichen Tod seines Vaters.
Die Pferde hatte er nicht getötet. Philipp hatte es getan, um einen Betrug zu vertuschen. Hella war sicher, dass Philipp auch Nelli getötet hatte. Bevor er aus dem Fenster sprang, hatte Thies ihr diese Mappe überlassen, die alles enthielt, was Nelli die Macht gegeben hatte, beide Männer, ihren Lebensgefährten Thies ebenso wie ihren Geliebten Philipp, am Gängelband zu führen. Ein abscheulicher Einblick in ein Geflecht aus Schikanen, Erpressungen und Drohungen. Was hatte Nelli nicht alles zusammen getragen: unter anderem das schriftliche Geständnis von Thies zum Tod seines Vaters, und einen Stapel Papiere mit handfesten Hinweisen auf Philipps florierenden Schwarzhandel mit verbotener Tiermedizin. Dies war der Punkt, der Hella nun interessierte. Philipp hatte illegal mit Mastpräparaten und Antibiotika Geschäfte gemacht. Da lag es nahe, ihn mit den Kartons im Gewölbekeller in Verbindung zu bringen. Aber hatte er allein gehandelt? Sie machte sich keine Illusionen über Nellis Charakter und war überzeugt, dass ihre Schwester die Finger mit im Spiel gehabt hatte. Philipp allein hätte das Versteck kaum unbemerkt anlegen können. Wahrscheinlich war das ganze Trio darin verstrickt. Philipp aus Habsucht, Nelli aus Machtgier und Thies als erpressbarer Handlanger. Vielleicht fand sich unter den Papieren einen Hinweis. Damals hatte sie die Blätter flüchtig durchgesehen und wieder in der Uhr verschwinden lassen. Sie hielt sich weiterhin an das Versprechen gebunden, das sie Thies vor dem Sprung aus dem Fenster gegeben hatte.
Sie würde die Papiere nicht der Polizei übergeben. Kurz
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