Flammenpferd
ihren Tribut. Sie kletterte die steile Leiter hinunter. Draußen vor dem Scheunentor zögerte sie. Eine Windböe hatte die Wolkendecke aufgerissen. Über dem Paddockstall stieg als riesige blasse Scheibe der Vollmond auf. In seinem silbrigen Licht erkannte sie die Pfützen auf dem Weg ebenso klar und deutlich wie die zerfransten Spitzen des Gestrüpps vor dem Fachwerk. Das Mondlicht würde alles leichter machen und erhöhte gleichzeitig das Risiko, entdeckt zu werden. Nein, sie konnte trotzdem nicht warten, und auch die Kopfschmerzen sollten sie nicht aufhalten. Es musste in dieser Nacht geschehen.
Fadista und Melody standen Seite an Seite, nur durch den Zaun getrennt. Die Stute brummelte freundlich, als Kati zu ihr in den Paddock stieg. Kati rieb der Stute über die Stirn und wandte sich Fadista zu. Er blieb, solange Melody sich nicht von der Stelle rührte, und duldete Katis Berührung. Über den Zaun hinweg strich sie ihm über den Mähnenkamm, fuhr ihm sachte über den Hals und sogar über die markante Nasenlinie. Die schorfigen Wunden fühlten sich rau an. In ihrem Rücken spürte sie den Atem der Stute. Aus dem benachbarten Paddock schaute Jackson herüber. Sie blieb lange bei den Pferden, wurde Teil ihrer geheimen Bruderschaft. Sie schöpfte aus der gelassenen Kraft der Tiere und sammelte Energie und Zuversicht für das, was ihr in dieser Nacht bevorstehen sollte.
Als sie ein wenig später über die Hauswiese lief und in gerade Linie auf die Baumgruppe zu hielt, die wie eine schwarze Wand gegen den nachtblauen Himmel stand, fühlte sie sich wie in einem gläsernen Kokon vom Mondlicht umfangen und allen Blicken Preis gegeben wie auf einer riesigen Bühne. Der Spaten wog schwer in ihrer Hand. Trotzdem rannte sie unbeirrt weiter, bis sie den höchsten Baum erreichte. Ein flacher Sandstein kennzeichnete die Stelle unter den ausladenden Ästen. Auch ohne den Stein hätte sie das Grab gefunden. Die Erde hob sich im Mondschein von der Grasfläche ab. Sie wälzte den Stein zur Seite und begann zu graben.
Zum ersten Mal in ihrem Leben hantierte sie mit einem Spaten. Zunächst ging es leichter, als sie befürchtet hatte. Schwungvoll schaufelte sie die Erde zur Seite. Doch bald wurden ihr die Arme schwer und der Rücken zwickte. Je tiefer sie grub, desto fester backte der lehmige Boden zusammen. Sie legte eine Pause ein, wischte sich über das Gesicht, wie sie es bei Hella beobachtet hatte, und schaute zum Hof hinüber. Die Scheune und der Giebel des Pensionsstalls standen als schwarze Schatten in der Nacht. Auch das Wohnhaus lag im Dunkeln. Vom Hof aus würde sie niemand beobachten, und sie wollte darauf vertrauen, dass der Feldweg, der sich hinter der Baumgruppe entlang zog, um diese Zeit nicht mehr von Hundeleuten benutzt wurde. Die Unruhe trieb sie bald wieder an. Sie konnte es nicht erwarten. Als sie mit der Spatenspitze auf etwas Festes, etwas Körperliches stieß, grub sie umso emsiger und warf schließlich den Spaten ins Gras und buddelte mit den bloßen Händen weiter, bis sie den haarigen Körper packen konnte. Nun folgte der schwerste Teil. Als wollte er sich über den Tod hinaus verweigern, sperrte er sich, und sie musste alle Kraft aufbringen, bis sie ihn endlich ins Gras gezerrt hatte. Ihr Herz schlug wie wild, und die Hände zitterten. Die Kopfschmerzen meldeten sich zurück. Ob vor Anstrengung oder vor Aufregung wusste sie nicht. Es spielte keine Rolle. Sie kümmerte sich nicht darum, sondern kniete neben dem toten Körper nieder. Die starken Fangzähne lagen frei und blitzten schneeweiß im Mondlicht. Sie betastete den Körper mit beiden Händen nach den Wunden, die ihm das Feuer zugefügt haben mochte. Ein hoffnungsloses Unterfangen; das Fell war voller Lehm. Sie musste ihn mitnehmen und säubern. Um Gewissheit zu bekommen, und damit sie die Brandwunden in aller Ruhe betrachten und untersuchen konnte. Voller Vorfreude machte sie sich daran, das Grab wieder aufzufüllen und kippte den Stein darüber. Es blieb eine Kuhle, weil der Hund fehlte. Außerdem war ringsum im Gras viel Erde verloren gegangen. Sie war zu aufgeregt, um sich darüber Gedanken zu machen. Sollte Hella doch denken, der Boden hätte sich gesetzt.
Der Hund war verblüffend schwer. Nach wenigen Schritten glitt er ihr aus den Armen. Sie beschloss, es Hella und ihrem Totengräber gleich zu tun, und machte sich auf den Weg zum Hof, um eine Schubkarre zu holen. Einen langen Strick würde sie brauchen, damit sie den Körper auf den
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