Flammenzungen
Mit einem breiten Grinsen reichte er Amy ihre beiden vollgepackten Einkaufstüten. Offenbar schämte er sich nicht für seine feste Zahnspange. Stolz rückte er das Namenschild am Kragen seines weißen Kittels zurecht.
„Danke, Allain.“ Seit drei Jahren zog sie diesen kleinen Supermarkt im Zentrum von Waggaman dem Walmart im Nachbarort Elmwood vor. Dass er lediglich eine Straße von ihrer Arbeitsstelle entfernt lag, war nur einer der Gründe. Viel wichtiger war für sie, die Tradition ihrer frankokanadischen Vorfahren zu bewahren. Die Cajuns waren im 18. Jahrhundert aus der frankokanadischen Provinz Acadie vertrieben worden und hatten sich zwischen New Orleans, Texas und Marksville angesiedelt. In Anlehnung an ihre Heimat nannten sie dieses Gebiet Acadiana.
Das Warensortiment des Ladens, seine Werbeplakate und Dekoration hatte sich während der Zeit, die Amy ihn aufsuchte, nicht verändert. Nur die Teenager, die den Einkauf für sie einpackten, wechselten alle paar Monate. Sie verließ den Shop und ging in Richtung des Verwaltungsgebäudes, vor dem ihr Wagen stand. Sie hatte ihn nach Feierabend dort stehen lassen, weil das Lebensmittelgeschäft hur einen kleinen Parkplatz bot und der Fußweg lediglich fünf Minuten betrug.
Mit zehntausend Einwohnern zählte Waggaman zu den kleinsten Städten im Jefferson County. Amy konnte sich glücklich schätzen, dass ihre Mutter, die im Personalamt arbeitete, ihr eine Stelle im Einwohner- und Meldeamt besorgt hatte. Auch heute noch dachte Amy, sie hätte damals mehr Freude zeigen sollen, als sie davon erfuhr. Es gab nicht viele Jobs in den Vororten, und selbst in New Orleans stieg die Arbeitslosenquote stetig. Amy war zufrieden. Genügsam. Aber glücklich?
Manchmal träumte sie davon, die Sicherheit einer festen Anstellung über Bord zu werfen und einer anderen Tätigkeit nachzugehen, einer lebendigeren. Zum Beispiel Shotgun-Häuser zu renovieren und zu verkaufen. Ein verrückter Gedanke, der sie nicht mehr losließ. Sie liebte diese altmodische Gebäude. Viele von ihnen zerfielen, weil es keine Kaufinteressenten gab. Aber wenn die geschichtsträchtigen Wohnsitze erst mit viel Liebe saniert wären, würden bestimmt einige Immobiliensuchende deren Reiz erkennen und zuschlagen. Für Amy zählten sie zum Kulturgut von Louisiana. Sie war eben eine Träumerin.
Die Tüten wurden immer schwerer, ihre Arme immer länger. Tagsüber waren die Temperaturen immerhin noch auf zwanzig Grad gestiegen, doch nun, da es dämmerte, wurde es langsam kühler, und sie fror in ihrer kurzärmeligen Bluse.
„Es ist ja nicht mehr weit.“ Sie war schon auf der Höhe der Müllcontainer, die neben dem städtischen Gebäude in einem kleinen carportartigen Holzverschlag standen. Zwei Hecken an den Seiten schirmten sie vor Blicken ab.
Amy konnte bereits ihr Auto sehen. Sie sehnte sich danach, zu Hause die Füße hochzulegen, die Brownies auszupacken und sie mit einem Glas Milch zu genießen. Manchmal waren die einfachen Dinge die besten, fand sie.
Plötzlich sah sie aus dem Augenwinkel heraus einen Schatten auf sich zuhuschen. Sie runzelte die Stirn und wandte sich um. Im letzten Moment sah sie noch die Skimaske, dann war der Maskierte auch schon hinter ihr und presste ihr die Hand auf den Mund.
Bis ins Mark erschrocken, ließ Amy ihre Taschen fallen. Sie hörte, wie die Milchflasche zerbrach. Es konnte sich nur um einen Mann handeln, denn er schlang den Arm um ihre Taille und drückte so fest zu, dass es ihr den Atem raubte. Mühsam holte sie durch die Nase Luft. Ihr Puls stieg von null auf hundert innerhalb weniger Sekunden.
Während der Fremde sie ohne zu zögern unter den Carport zerrte, strampelte sie hilflos mit den Füßen. Sie konnte sich kaum auf den Beinen halten, war unfähig, klar zu denken. Ihr Schnaufen klang seltsam laut in ihren Ohren. Wie von einer anderen Frau. Wurde sie wirklich gerade überfallen?
War ihr eben noch kühl gewesen, so schwitzte sie. Der Mann hatte die fahrbaren Abfallbehälter vorgezogen. Er schleifte Amy in den Freiraum dahinter und wartete, bis sie einen sicheren Stand hatte. Als er sie losließ, keuchte sie überrascht. Bevor sie sich jedoch zu ihm umdrehen konnte stieß er sie brutal an eine Holzwand. Ihr Kopf knallte dagegen. Schmerz durchzuckte ihren Schädel und nahm ihr für einen Augenblick die Orientierung. Ihre Schläfe pochte. Instinktiv tastete sie ihr Gesicht ab, spürte aber kein Blut.
Wie von Sinnen riss der Angreifer ihre Bluse kaputt. Er
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