Flandry 5: Krieger aus dem Nirgendwo
Orientierung; eine Stunde erscheint wie ein Tag und später wie eine Woche oder ein Jahr. Raum und materielle Wirklichkeit entschwinden. Halluzinationen setzen ein, und der Wille beginnt zu zerbröckeln. Besonders gilt das, wenn das Opfer sich unter Feinden weiß und jeden Augenblick befürchten muss, die Peitsche oder das Messer zu spüren, das seine eigene grausame Kultur gewiss einsetzen würde.
Flandry schloss die Tür. »Stellen Sie eine Wache auf«, sagte er. »Benachrichtigen Sie mich, wenn er zu brüllen anfängt.« Er zog sich die Jacke aus. »Von wem kann ich etwas Trockenes zum Anziehen bekommen?«
Judith musterte lange seinen Oberkörper. »Ich dachte, alle Terraner seien aufgeschwemmt, Sir Dominic«, schnurrte sie. »Da hab’ ich mich wohl auch geirrt.«
Flandry zog sie mit Blicken aus. »Und Sie, meine Liebe, machen über jeden Zweifel hinaus deutlich, dass Vixener alles andere als unförmig sind.«
Sie nahm seinen Arm. »Was planen Sie als Nächstes?«
»Graben. Beobachten. Euch Maquisards auf Vordermann bringen. Es gibt so viele hässliche Dinge, die ich euch beibringen kann. Um nur eins zu nennen: Immer dann, wenn ihr nichts weiter zu tun habt, könnt ihr die Arbeit in einer Kriegsfabrik für einen halben Tag zum Stillstand bringen, indem ihr anonym vor einer Bombe warnt. Dann gibt es noch den ganzen restlichen Planeten zu organisieren. Ich weiß nicht, wie viele Tage ich habe, aber es gibt genug zu tun, um ein ganzes Jahr auszufüllen.« Flandry reckte sich behaglich. »Aber jetzt möchte ich den Drink, von dem ich gesprochen habe.«
»Hier bitte, Sir.« Bryce hielt ihm eine Flasche hin.
Judith sah ihn stirnrunzelnd an. »Ist dieser Fusel alles, was du dem Captain anbieten kannst?«, rief sie. Ihr Haar leuchtete auf ihrem Rücken, als sie sich umdrehte, um Flandry wieder anzulächeln. »Ich weiß, Sie werden mich für schrecklich aufdringlich halten, aber ich habe zwei Flaschen echten Bourgogne zuhause. Es ist nur ein paar Häuserblocks weit, und ich kenne einen sicheren Weg.«
Oho! Flandry leckte sich innerlich die Lefzen.
»Ich würde euch auch einladen«, sagte Judith zuckersüß, »aber es reicht nicht für alle, und Sir Dominic verdient es am meisten. Für ihn ist nichts zu gut, denke ich. Absolut nichts.«
»Das meine ich auch«, sagte Flandry. Er wünschte mit einer Verbeugung eine gute Nacht und folgte Judith hinaus.
Kit starrte ihnen einen Augenblick lang hinterher. Als er die Tür schloss, hörte er, wie sie in Tränen ausbrach.
XI
Drei von Vixens zweiundzwanzigstündigen Tagen verstrichen, und ein vierter zum Teil, ehe die Nachricht kam, dass Temulak gebrochen sei. Flandry pfiff. »Das wird aber auch Zeit! Wenn die alle so zäh sind …«
Judith klammerte sich an ihn. »Musst du denn sofort gehen, Schatz?«, gurrte sie. »Du bist so oft weg … streifst durch die Straßen und spionierst rum, un’ dabei wimmelt es noch von Rudeln auf der Jagd nach denen, die den Trupp überfallen haben … Ich hab’ Angst um dich.«
Ihr Blick war eher einladend als besorgt. Flandry küsste sie geistesabwesend. »Wir sind Patrioten und so weiter mit dem Schmus«, sagte er. »Ich könnte dich nicht so sehr lieben, Süße, et cetera. Jetzt lass mich los.« Er war zur Tür hinaus, ehe sie weiterreden konnte.
Der Weg zwischen Judiths Haus und dem des Untergrunds verlief meistens von einem Garten zum anderen, aber auch über ein Stück öffentliche Straße. Flandry schob die Hände in die Tasche und schlenderte unter dem raschelnden Federpalmen einher, als kenne er weder Sorge noch Hast. Die anderen Menschen ringsum, zu Fuß oder in Bodenwagen, sahen unterjocht aus, wirkten bereits verhungert und abgerissen. Einmal surrte ein Trupp Ardazirho auf Motoreinrädern vorbei; ihre spitzen Schnauzen durchpflügten wie Schiffsbugs die Luft, und sie zogen ein Kielwasser ängstlichen Schweigens hinter sich her. Die Wintersonne stand tief im Nordwesten, groß und blendend weiß zwischen gehetzten Gewitterwolken am blassen Himmel.
Als Flandry in den Keller kam, waren nur Emil Bryce und Kit Kittredge anwesend. Der Jäger hielt Wache. Durch die geschlossene Tür hinter ihm drangen Geheul und Schluchzen. »Er stammelt, dass er redet«, sagte Bryce. »Aber kann man glauben, was er sagt?«
»Auch das Verhör ist eine Kunstform«, erwiderte Flandry. »Wenn Temulak einem Menschen so ähnlich ist, dass Reizentzug ihn bricht, ist er auch nicht in der Lage, schnell genug konsistente Lügen zu erfinden, wenn
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