Flaschendrehen furioso: Roman (German Edition)
weinen.
Der zerbeulte VW-Bus eierte weiter ins Tal hinab. Der Baum hatte zwar den Kürzeren gezogen, aber als Abschiedsgeschenk der Vorderachse einen ordentlichen Schlag mitgegeben.
Vier Kilometer oder mehr hatten sie schon geschafft, doch bis zum nächsten Dorf war es noch ein weiter Weg. Zumindest unter diesen Umständen. An einem normalen Tag dauerte die Fahrt dorthin kaum länger als zwanzig Minuten, viel zu schnell bei der herrlichen Landschaft, die sich einem bot. Jetzt aber kamen sie kaum voran, weil Heiko zum einen die Hand vor den Augen nicht sah, so finster war es, zum anderen, weil die Straße kaum noch existierte. An zwei Stellen war sogar die komplette rechte Fahrspur weggebrochen. Aber immerhin, sie fuhren, nicht zuletzt, weil Heiko erstaunliches Geschick und eine schnelle Reaktionsfähigkeit bewiesen hatte.
Für einen kurzen Moment entspannten sich die beiden, als der Wagen ins Rutschen kam. Die Reifen fanden keinen Halt mehr und hörten auf zu reagieren. Sie schlitterten die Straße hinab. Bremsen war zwecklos.
Der Puls der beiden Männer beschleunigte sich, denn weiter unten wartete eine Kurve auf sie, danach lauerte ein Abhang. Und sie steuerten geradewegs darauf zu. Heiko ruderte wild mit dem Lenkrad herum, während Carlo sich mit seinen Beinen gegen den Fußraum stemmte und mit den Händen ins Armaturenbrett krallte. Dann, in allerletzter Sekunde, griffen die abgenutzten, profillosen Reifen wieder. Aber zu spät. Anstatt der Kurve zu folgen, schoss der Wagen geradeaus weiter und durchbrach mühelos eine eher nur symbolisch gemeinte, kniehohe Leitplanke aus dünnem Holzbalken und glitt mitten hinein in die Dunkelheit. Für einen Moment blieb die Zeit stehen.
Zum Glück stürzte der Wagen nicht in einen tiefen Abgrund, vielmehr steckten sie in einem Schlammloch.
Heiko lachte beinahe hysterisch auf. Sie waren dem Sensenmann doch noch einmal von der Schippe gesprungen. Carlo kurbelte das Fenster herunter, um zu sehen, wie weit sie von der Straße entfernt waren. Zehn Meter, schätzte er.
»Da ist die Straße!«, bedeutete Carlo in die tiefschwarze Nacht. »Fahr ja keinen Meter weiter vorwärts!«
Zwar hatte der Schlamm sie gerettet, aber dafür ließ er sie jetzt auch nicht mehr los. Die Reifen drehten durch. Es war zum Verrücktwerden. Heiko sah keine andere Chance und legte den Vorwärtsgang ein. Nur in diese Richtung griffen die Reifen.
»Nein! Nicht vorwärts!«, schrie Carlo.
Aber Heiko schien genau zu wissen, was er tat. Er bremste abrupt und wagte einen erneuten Rückwärtsversuch. So gut Heikos Idee auch war, es hatte nicht viel gebracht, außer dass sie jetzt noch näher an der Kante zum Abgrund standen. Und wieder drehten die Reifen durch.
Carlo sprang aus dem Wagen. »Ich schiebe!«
Das Schmerzmittel begann zu wirken. Eigentlich brauchte Saalfelds Körper die wenigen Reserven, die ihm geblieben waren, um Luft in seine Lungen zu pumpen und den Herzschlag aufrechtzuhalten, dennoch suchten seine glasigen Augen ruhelos den Raum ab, und mit kaum hörbarer Stimme sagte er: »Ti…na? T…ina?«
»Lutz, schnell, bring Tina her!«, rief Elli.
Das arme Ding war immer noch schwach auf den Beinen, doch als sie mitbekam, dass Saalfeld mit ihr reden wollte, durchzuckte sie ein Reflex, und sie stand gleich darauf ohne die Hilfe von Lutz am Bett, ganz nah. Die Köpfe von Vater und Tochter trennten nur wenige Zentimeter.
»Ich, ich hätte … dir so viel … so viel zu erzählen.« Jedes einzelne Wort war unendlich anstrengend für ihn. Es war dramatisch, dass er erst nach so vielen Jahren, jetzt, da er mit dem Tod kämpfte, zum ersten Mal seiner Tochter gegenüberstand. »Bitte, zeig mir deinen Hinterkopf, … die Haare.«
Während sich die anderen ansahen, schien Tina genau zu wissen, worauf Saalfeld hinauswollte. Sie drehte sich um und zeigte ihrem Vater die kleine, versteckte Stelle, an der keine Haare wuchsen.
Saalfeld war zutiefst gerührt. »Wie … wie bei mir.« Nun bestand kein Zweifel mehr. Sie war sein Kind. Er lächelte zufrieden, aber drohte erneut das Bewusstsein zu verlieren.
Tina weinte leise. Seit sie denken konnte, suchte sie nach diesem Mann, der hier so hilflos vor ihr lag. So schwer es gewesen war, sie hatte sich damit abgefunden, dass sie nie erfahren würde, wer mit dafür verantwortlich war, dass es sie überhaupt gab. Seitdem fehlte ihr jede Orientierung. Ihr Koordinatensystem kannte keinen Zielpunkt, weil der Anfangspunkt nicht komplett war. Die meisten
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