Flaschendrehen furioso: Roman (German Edition)
Saalfeld, zur völlig panischen Tina. Es war, als läge alle Verantwortung bei ihr. Noch nie hatte sie solche Angst verspürt. Im Krankenhaus hatte es auch oft kritische Situationen gegeben, in denen der Grad zwischen Leben und Tod hauchdünn war, doch dort war sie nie allein. Dort gab es immer einen Chefarzt, dort waren sie immer ein Team. Sie sah wieder zu den anderen. Dann lief ihr eine Träne über die Wange, und sie schüttelte langsam den Kopf. Sie konnte nichts tun.
In diesem Moment drehte sich Anna zu Carlo: »Carlo, mach was! Irgendwas!« Sie beschimpfte ihn beinahe. Nur, was sollte Carlo machen? Er war ebenso machtlos wie alle anderen. Wieder wurde Saalfeld von beißendem Husten ergriffen, zugleich schwitzte und zitterte er.
Tina nahm sein Gesicht zwischen ihre Hände, sah ihm tief in die Augen und flehte ihn an: »Du darfst nicht sterben! Nicht jetzt, Papa!«
Im gleichen Moment schloss Saalfeld die Augenlider. Tina brach zusammen und knallte mit voller Wucht auf den Boden.
Saalfeld lebte noch, auch wenn es nicht so aussah.
Tina lag nicht mehr auf dem blanken Holzboden, sondern auf einer Decke, die Lutz geholt hatte. Ihr Kopf ruhte auf einem kleinen Kissen. Elli hatte ihr vorsichtig Eiswürfel an die Schläfen gehalten und sie so wieder zurückgeholt. Doch sie war körperlich und seelisch am Ende. Sie war kaum ansprechbar und brauchte vermutlich ärztlichen Beistand. Lutz kniete neben Tina, mit der er sich noch vor wenigen Minuten bis aufs Messer gestritten und geschlagen hatte, und versuchte sie mit liebevollen Worten zu trösten.
»Tina, hör mir zu! Wir schaffen das, zusammen! Du bist doch die Stärkste von uns allen«, redete er beruhigend auf sie ein. Gleichzeitig dachte er über das nach, was sie vorhin gesagt hatte. Papa? Fing sie an zu phantasieren? Lutz wusste, dass Tina ihren Vater nie kennengelernt hatte, da ihre Mutter sich immer hartnäckig geweigert hatte, ihr seinen Namen zu nennen. Ihre Mutter schämte sich heute noch für ihren One-Night-Stand von damals. Tina hatte nie eine Chance gehabt und es vor Jahren endgültig aufgegeben, ihn zu suchen. Nur selten sprach sie darüber. Lutz hatte es bald nicht mehr gewagt, das Thema anzuschneiden, weil er wusste, dass es ihr jedes Mal wahnsinnig weh tat. Warum nahm sie ausgerechnet jetzt dieses für sie so unglaublich bedeutende Wort in den Mund? An Saalfelds Bett?
»Was willst du für deinen VW-Bus?«, fragte Carlo plötzlich.
Lutz verstand kein Wort. »Was soll die Frage?«
Ganz anders Heiko, er war auf einmal wie ausgewechselt, voller Entschlossenheit. Er ahnte, was Carlo vorhatte. »Ich komme mit!«
»Was habt ihr vor? Verdammt, was wollt ihr von mir?«
»Deinen VW-Bus. Wie viel?«, wiederholte Carlo.
»Jetzt sagt mir endlich, was los ist. Was wollt ihr mit meinem VW?«
»Endlich Hilfe holen«, sagte Heiko ganz ruhig.
»Mit meinem BMW ist das nicht zu schaffen, und Heikos Audi liegt zu tief. Mit deinem VW-Bus könnten wir es schaffen. Damit haben wir vielleicht eine Chance, den Baum von der Einfahrt zu rammen und ins Tal zu fahren.«
»Das ist doch Wahnsinn!« Lutz war von der Entschlossenheit der beiden überfordert.
»Wir müssen es versuchen!«, sagte Heiko bestimmt.
Carlo wurde ungeduldig. »Ich geb dir zehntausend. Der ist danach hundertprozentig schrottreif.«
»Ach was!« Lutz griff in seine Hosentasche und holte die Schlüssel hervor. »Das ist er eh schon. Vergiss das verdammte Geld.«
Kaum hatte Lutz das gesagt, da waren die beiden schon auf dem Weg zur Tür.
»Glaubst du wirklich, dass ihr da durchkommt?«, fragte Elli besorgt.
Carlo blieb stehen. »Wir müssen es einfach probieren!«
Wie zur Bestätigung hatte Saalfeld die nächste schwere Hustenattacke.
Anna war richtig stolz auf Carlo. Fast hätte sie ihm einen Kuss gegeben, aber sie wusste, dass es dafür zu spät war. Stattdessen wünschte auch sie ihm Glück.
Die Frauen waren mit Saalfeld beschäftigt. Elli stützte ihn, während Sandra ihm den Schweiß von der Stirn und die Spucke vom Mund wischte.
Lutz kauerte nach wie vor neben Tina und hielt ihre Hand. Sie starrte geradezu manisch in die Unendlichkeit.
»Tina, die anderen holen jetzt Hilfe. Es wird alles gut.« Fast war Lutz dankbar, dass sie nicht sehen konnte, wie sehr er sich selbst ängstigte. Er zitterte am ganzen Körper. Saalfeld hatte ja so recht gehabt. Lutz war kein Mann der Tat, er hatte nur hohle Worte zu bieten. Vor seinen Augen kämpfte ein Mann um sein Leben, und Lutz konnte nichts
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