Flaschendrehen furioso: Roman (German Edition)
unbesiegbar. Und absolute Stille nahm sie gefangen.
Wie oft schon hatte die Menschheit geglaubt, die Welt würde untergehen? Wie viele Scharlatane hatten es ihr schon prophezeit? Und wie oft war man überzeugt, das Ende sei nah?
Doch bis jetzt hat sie es immer wieder geschafft.
In ganz Norditalien und den Südalpen hatte es so gnadenlos geschüttet, dass die Städte der Poebene sich auf eine gewaltige Flutwelle vorbereiten mussten. Hinzu kam der Sturm, er war mit einer ungeheuren Wucht durch die Wälder gezogen und hatte Tausende, wenn nicht Millionen von Bäumen entwurzelt. Die Natur würde viele Jahre brauchen, um sich von ihren eigenen entfesselten Kräften wieder zu erholen.
Den stolzen Hirsch, der plötzlich auf der Straße vor ihnen stand, schien das alles wenig zu beeindrucken. Er streckte sein mächtiges Geweih empor, schnaufte ihnen entgegen, an seinen Nüstern bildeten sich kleine Dampfwirbel, und trabte dann wieder in den Wald, den Berg hinauf.
Carlo und Heiko saßen nicht mehr im kalten Matsch, sondern in einem gepolsterten BMW-Geländewagen und waren dankbar, die letzte Nacht überlebt zu haben.
Schüchtern kämpfte sich das erste Tageslicht durch die sich zögerlich auflösende tiefe Wolkendecke, und jetzt am frühen Morgen wurde das ganze Ausmaß der Zerstörung erst deutlich. An unzähligen Stellen war die Straße beschädigt oder zerstört. Es war schon fast ein Wunder, dass sie es geschafft hatten, all den Löchern und weggerissenen Stellen auszuweichen. Ständig kreuzten schlammige Bäche die Straße, doch es war schon weitaus weniger gefährlich als noch vor Stunden, als der Regen einfach nicht hatte enden wollen.
Letztendlich aber war dem Regen die Luft ausgegangen, ungefähr zur gleichen Zeit als Carlo und Heiko nach ihrem Höllenritt, erschöpft und nass bis auf die Knochen, bei dem alten hilfsbereiten Pärchen an der Tür geklopft hatten.
Jetzt saßen sie mit trockenen Hosen und Hemden, die sie sich bei ihnen geliehen hatten, im BMW des Dottore, der viel zu schnell fuhr.
Die Sonne wollte schnell aufgehen. Sie schien Italien doch nicht ganz vergessen zu haben. Vom kalten, feuchten Boden stieg modriger Dampf auf. Der Luxus des X5, die sportlichen, schwarzen Ledersitze und die Holzverkleidung, die weiche Federung, das selbstbewusste Surren des starken Motors, diese ganze Sicherheit hatte etwas Unwirkliches. Carlo und Heiko steckten ihre Strapazen noch immer in den Knochen.
»Und Herr Saalefelde hat Pillen bei sich?«, fragte der Doktor.
»Saalfeld«, korrigierte Heiko, »aber wir wissen nicht, was es für Pillen sind.« Kurz dachte er an seine Viagras. Er erschrak. Wie unglaublich weit weg war das alles, als er wie ein Gockel nackt durch die Villa stolziert war.
Sie passierten den Bach, der den Bus von Lutz verschlungen hatte, und auch die Kurve, die sie zur Geraden hatten machen wollen. Gut vierzig Meter tief wären sie geflogen. Heiko wurde wieder eiskalt bei dem Gedanken. Schließlich kamen sie zu dem sperrigen Baum, den sie zur Seite gefahren hatten. Und dann zur Villa.
Das Erste, was sie sahen, waren die vier Frauen, die eng beieinander auf der breiten Steintreppe saßen. In der Mitte hockte Tina, eingerahmt von Elli und Anna, die beide ihren Arm um sie gelegt hatten. Das war kein gutes Zeichen.
Dennoch wollte der Dottore keine Zeit verlieren. Kaum hatte er den Wagen geparkt, da sprang er heraus und eilte zur Treppe. Erst bei Elli blieb er stehen. Er gab ihr einen Kuss, erleichtert, sie zu sehen, und wollte dann sofort mit Sandra weiter zu Saalfeld.
Doch Elli hielt ihn auf. Sie sah ihn ernst an, dann schloss sie die Augen. Sie trat einen Schritt auf ihn zu und legte ihren Kopf an Elias Brust. So, als wollte sie sagen: »Bitte fang mich auf!«
»Meine liebe Elli«, sagte er und streichelte sie.
Es war überstanden, und trotzdem hatten sie verloren.
»Scheiße! Verdammt!«, schrie Heiko und trommelte mit den Fäusten auf Carlos Brust ein.
Am Mittag hatte die Sonne wieder den kompletten Himmel zurückerobert. Als hätte es nie ein Unwetter gegeben, als wäre es nur ein schlechter Witz gewesen, stand sie fest an ihrem Lieblingsplatz und blendete sie alle.
Wie am Tag ihrer Ankunft saßen sie alle wieder auf der Terrasse. Sonst war alles anders. Sie waren andere Menschen geworden, ihre Beziehungen zueinander hatten sich verändert, nichts wollte und konnte mehr so sein, wie es noch vor wenigen Tagen gewesen war. Sie alle sahen das Leben mit anderen Augen. Die Villa hatte ihnen
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